06.08.2019 von Marc Schwegler

Norbergfestival: Klang der Peripherie

In einem kleinen Städtchen in Schweden findet in einer verlassenen Mine seit 20 Jahren das Norbergfestival statt. Zum Jubiläum Ende Juli 2019 waren wir vor Ort – hier unser Review.

Eine beeindruckende Kulisse erwartet die Besucher beim Eintreffen auf dem Gelände des Norbergfestival: In strahlendem Sonnenschein zeichnet sich gegen den Horizont der Turm der Eisenmiene Mimerlaven ab, die 1981 ihren Betrieb eingestellt hat. In ihrem Inneren und in der benachbarten Elektrozentrale der Anlage, die einst die hier ansässigen Menschen beschäftigte, spielt über das Wochenende verteilt ein gelungen kuratierter Reigen von Underground-Musikerinnen aus Europa und Übersee. Und dies bereits zum 20. Mal, jedoch nach wie vor in angenehm überschaubarem Ausmass: Knapp 1000 Leute vorwiegend aus Schweden und Dänemark, von denen viele freiwillig am Festival arbeiten, finden sich zusammen. Sie treffen sich hier, weil die einzigartige Location prädestiniert ist für elektronische Musik und Kunst – die ja seit ihren Anfängen immer wieder verstanden hat, die von der Industrie verlassenen Infrastrukturen neu zu nutzen. Alle drei Hauptbühnen und insbesondere die Haupthalle, «Mimer» genannt, die über das erste Betreten hinaus eine überwältigende visuelle Erfahrung bleibt, wird dann auch dieses Jahr wieder vom Sound- und Lichtteam des Festivals hervorragend in Szene gesetzt. Über das ganze Wochenende sind Sound und Licht kolossal und die immer wieder neuen Konzepte schlüssig. In Bezug auf die Inszenierung steht das Festival diesbezüglich kommerzielleren Spektakeln in nichts nach – ja es übertrifft deren Megalomanie und Kitsch bei weitem mit eindrucksvollem Minimalismus.

Beim Betreten des Geländes jedoch macht das Festival zunächst den Eindruck, als handle es sich um einen Outdoor-Rave. Unter einem mit Betonpfeilern gestützten Ausläufer des Hauptgebäudes versammelt sich ein kleines Zeltdorf; davor findet sich in einem kleinen Partyzelt die «Really Open Stage», wo sich bis in die Abendstunden verschiedene Leute auf einem kleinen Maschinenpark aus Synthesizern austoben. Die Kakaphonie, die einem bereits beim Eintreffen von dieser Bühne entgegenschallt, sollte das ganze Wochenende nicht abklingen – der ästhetische Mehrwert der Aktion erschloss sich einem nur bedingt und man wurde das Gefühl nicht los, dass Besucher und selbst die Kuratorinnen des Festivals den einen oder anderen Stossseufzer ausstiessen, wann immer sie am Zelt vorbeikamen. Der sympathische DIY-Gedanke, der das Festival trägt und prägt und der dafür sorgt, dass man sich von Beginn an aufgehoben und willkommen fühlt, scheint den Kuratorinnen dann doch auch den einen oder anderen Kompromiss abzufordern.

Auch die 303-Stage, die sich unter einem Zelt im Aussenbereich gegenüber der Elektrozentrale befindet, ist diesem Ethos verpflichtet. Auf eine Initiative des Publikums zurückzuführen – ursprünglich handelte es sich dabei um eine nicht-offizielle, von Angereisten improvisierte Stage – wird sie mittlerweile im offiziellen Programm des Festivals geführt und ist Teil einer in diesem Programm angekündigten Haltung: man wolle ein Kuratieren von oben herab hinterfragen, heisst es da. Das ist löblich – allerdings hatte die 303-Stage nur streckenweise gute Momente, obwohl Acts mit Rang und Namen sich alle Mühe gaben, die Raver bei Laune zu halten. Eigentlich gelang dies nur DJ Presscott: Mit ihrer Crew im Rücken, spielte die in Stockholm und Göteborg lebende DJ ein hervorragendes, energiegeladenes Set aus Jungle, Hardcore, Juke und anderen, in Bezug auf das Tempo verwandten Sounds. Sympathisch und tight – obwohl ihr MC «Dr. Echoe» es immer wieder schaffte, den Floor eher abzukühlen als anzuheizen.

In Bezug auf das DJing und darüber hinaus auch in Bezug auf die Performance ist es jedoch die in Manchester lebende und arbeitende LOFT, die das Highlight des Festivals darstellt. Was die aufstrebende Performerin, die mit ihrem Party-Kollektiv BOYGIRL stellvertretend für eine junge, queere Szene der nordenglischen Stadt stehen mag, am Norbergfestival abliefert, ist schlicht fulminant. Ihr einstündiger Auftritt, mit dem sie die Kraftwerk-Stage am Donnerstagabend eröffnet, verursacht gleichermassen heruntergeklappte Kinnladen und Gänsehaut. Das von in rasender Geschwindigkeit gespielten, eigenen Edits geprägte DJ-Set auf CDJs, das sich klassischen Übergängen verweigert und stattdessen beinahe fraktal anmutende Wechsel vollzieht, wird von performativen Momenten durchbrochen, in denen die in einem hexenartigen Drag und geschminkt auftretende LOFT mit breitem nordenglischen Akzent ihr Publikum beschimpft, Witze reisst oder sich die Seele aus dem Leib schreit. Erstaunlicherweise ertappt man sich dabei immer wieder beim Tanzen, weil der Mix aus brachialen, sich in wahnwitzige Kapriolen steigernden Drums einem um den Verstand bringt. Die Sound- und Licht-Crew trägt auch hier ihren Teil dazu bei, dass man sich angesichts der hervorragend abgestimmten Show eher in einem Highend-Club fühlt, als in einer Off-Location.

Es sollte der Höhepunkt im Kraftwerk bleiben, obwohl am Samstag das mit Nino Pedone (Shapednoise) und James Kelly (Wife) besetzte Duo Bliss Signal ebenfalls eine beeindruckende und intensive Performance bot. Eine Enttäuschung war dagegen der kraftlose Auftritt von Easter am gleichen Abend, bei dem sich das Publikum bereits nach den ersten Songs deutlich lichtete. Giant Swan dagegen hatten die Crowd am Vorabend im Griff und bot wie üblich eine dynamische Show für tanzwütige Fans der härteren Gangart von Techno. Publikumsfavorit schien verschiedenen Gesprächen zufolge das Konzert von The Empire Line am Samstagabend gewesen zu sein. Erstaunlich – denn was das aus den Szene-Grössen Jonas Rönnberg (Varg), Christian Stadsgaard (Vanity Productions) und Isak Hansen (Iron Sight) bestehende, skandinavische Trio hinlegte, bot eher Anlass für Irritation ob der plumpen, populistischen Message. Ästhetisch nicht allzu weit von den mittlerweile beinahe einhellig verpönten Powernoise-Irrungen von White House und Co. einer vergangenen Ära, beschränkte sich die Band inhaltlich darauf, über Video-Projektion und Lyrics das System zu verdammen, die Cops ganz der Tradition gemäss als Bastarde zu schimpfen und das Publikum darauf einzuschwören, nein zu Homophobie zu sagen. Abgesehen davon, dass das von sämtlichen Schattierungen von Geschlechtern durchmischte Publikum diese Message bereits mehr als verinnerlicht haben dürfte, wurde einem grundsätzlich nicht klar, was der eher pubertär anmutende Aufruf zur Revolution Neues beizutragen hatte. Augenscheinlich war man mit diesem Eindruck jedoch in der Minderheit.

Der Solo-Auftritt von Hansen als Iron Sight in der Kathedralen-artigen Halle des Mimer am Freitag war dagegen ziemlich gelungen. Von ohrenbetäubendem Noise unterlegt schrie der Sänger in bester Hardcore-Manier, infernalisch ausgeleuchtet mit nacktem Oberkörper seinen Zorn und die Verzweiflung in das sich über mehrere Ebenen verteilende Publikum. Er stand damit dem Konzert von ssaliva am Eröffnungsabend in wenig nach, obwohl letzterer mit seinen barockartigen Kompositionen es noch deutlicher schaffte, einen Schleier von Wehmut spürbar zu machen über den industriellen Niedergang, den die verlassene Mine letztlich symbolisiert und der im durch ihn geschrumpften Städtchen Norberg noch immer seine Spuren hinterlässt.

Der Austausch mit der Gemeinde ist laut Gesprächen mit den Macherinnen des Norbergfestivals eng und gut. Auch die Läden im Städtchen sind inzwischen gefasst auf den Andrang des grösstenteils aus den skandinavischen Zentren Stockholm und Kopenhagen anreisenden Publikums. Man hat sich augenscheinlich mit dem Gedanken angefreundet, dass aus einem wichtigen Arbeitgeber ein Ort geworden ist, der einmal im Jahr von jungen Freaks in Beschlag genommen wird und aus dem nur noch in dieser Zeit der Lärm von Maschinen bis ins Zentrum des Städtchens dringt. Die Musik der Industrie jedoch spielt schon länger weiter im Norden – in anderen Dimensionen, dem Südschweden nicht beizukommen vermag. Eine der weltweit grössten Eisenmienen am Berg Kirunavaara in Lapland, betrieben von der staatlichen Luossavaara-Kiirunavvaara AB (LKAB), gräbt weiterhin derart erfolgreich und tief, dass das Anfang des 20. Jahrhunderts gegründete, naheliegende Städtchen Kiruna gefährdet ist und verschoben werden muss. Weiter östlich und auf Gebiet der Sami, der Ureinwohner von Lapland, entsteht die Stadt von neuem – und die 21 wichtigsten Gebäude des Ortes werden als Ganzes dahin transportiert. Ungefähr eine Milliarde Euro soll die Verschiebung kosten, heisst es – finanziert wird der Umzug von der LKAB, die sich das angesichts des weiterhin grossartig laufenden Exportgeschäfts nach China auch leisten kann. Renderings zeichnen eine belebte Innenstadt mit Leuchtgirlanden und aus der abgebildeten H&M-Filiale meint man schon aufdringlich generischen Pop auf den Strassenzug drängen zu hören. In Norberg derweil dürfte spätestens jetzt wieder Ruhe eingekehrt sein.

Die postindustrielle Peripherie in Schweden beschreibt Daniel Iinatti, der das Norbergfestival mitkuratiert und gemeinsam mit Anna Sagström das Label Country Music betreibt, im Interview mit zweikommasieben (siehe Ausgabe 17) sehr gut. Dieses Interview findet sich jetzt auch online und es liefert einen sehr treffenden Kontext zum Festival – zu lesen ist es hier.