06.07.2020 von Moritz Weizenegger

Dasychira – Eine Kindheit wiederfinden

Die Musik von Adrian Martens alias Dasychira könnte das Schlaflied für die Albträume einer Generation sein, die das Leben ohne Internet nicht kennt. zweikommasieben-Autor Moritz Weizenegger lernte Martens am Les Urbaines Festival im Dezember 2019 in Lausanne kennen. Ein wenig später verabredeten sich die beiden für eine Unterhaltung online und führten das folgende Interview.

Das Debutalbum xDream von Adrian Martens alias Dasychira erschien im Oktober letzten Jahres auf Blueberry Records. Es zieht seine Hörerschaft mit geschickten Spannungsbögen in den Bann und präsentiert zugleich chaotisch und sorgfältig aufgebaute Welten. Martens beweist ein Händchen für das Erzählen von Geschichten und so wird eine Mischung aus furchteinflössendem «Gore» und überdrehtem «Kawaii» kreiert und zur Erkundung der eigenen Identität genutzt. Als Projekt bringe Dasychira Kindheitsnostalgie mit künstlerischem Ausdruck zusammen, erzählt Martens im Gespräch mit Moritz Weizenegger.

Moritz Weizenegger Du bist in Südafrika aufgewachsen und hast in New York und Berlin gelebt. Wo befindet sich dein jetziges Zuhause?

Adrian Martens Ich lebe in Holland – bis auf weiteres. Hier finde ich gerade Ruhe. Ich brüte meine kreativen Pläne für die nähere Zukunft aus und versuche, meine Erfahrungen aus dem letzten Jahr zu verarbeiten.

MW Was hast du studiert?

AM Musik. In Kapstadt habe ich eine Zeit lang Film studiert, bevor ich den Studiengang abbrach – ich wollte nicht wirklich Filmemacher werden. Der kreative Prozess entsprach mir nicht, es fühlte sich unnatürlich an. Nach dem Abbruch verbrachte ich ganze Tage am Strand, schwamm im Meer und habe mir mit Freundinnen Musik angehört. Ich hatte das Bedürfnis, mich neu zu orientieren. Während ich das tat, oder versucht habe, es zu tun, kamen meine Gedanken immer wieder zur Musik zurück. Ich wollte schon immer Musiker werden, aber aus irgendeinem Grund hielt ich es nie für möglich.

MW Dein Studiengang konzentrierte sich nicht auf «traditionelle» Musik, sondern eher zeitgenössische Praktiken in der elektronischen Musik, richtig? Wie hat dein Studium deine Herangehensweise zur Musik beeinflusst?

AM Mein ursprünglicher Hintergrund ist eigentlich das klassische Klavier ist. Ich hatte 13 Jahre lang Unterricht. Und ich wollte genau nicht in ein Konservatorium gehen! Ich suchte nach Etwas, das mir relevant erschein in Bezug zur Gegenwart. Das Programm an der NYU schien mir am besten. Klar, nicht jeder ist für die Kunstschule gemacht, aber ich habe dort gelernt, kritischer zu sein. Ich habe einen schärferen Blick entwickelt und gelernt, meine Arbeit beständig zu verbessern. Und gleichzeitig wollte ich lernen, mein Innerstes zu enthüllen zu können.

MW Wie war es, in Amerika zu leben und zu studieren?

AM Anfänglich war es eine Herausforderung. Ich brauchte etwa ein Jahr, um mich dort zurecht zu finden. Ich hatte das Glück, von Freunden und meiner Familie unterstützt zu werden.

MW Diese Art von Unterstützung ist wundervoll! Haben denn deine Eltern einen Kunsthintergrund?

AM Meine Mutter spielte Klavier und mein Vater war Schlagzeuger in einer Psych-Rock-Band. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen ist Meditation. Transzendentale Meditation [TM] war tatsächlich ein grosser Teil meiner Kindheit. Damals fand ich das ganz normal. Erst später realisierte ich, dass ich in ungewöhnlichen Verhältnissen aufgewachsen bin.

MW Was macht man dem beim Meditieren genau und was war die Idee bei TM?

AM So wie ich es verstehe, ist TM ein Hilfsmittel, den ganzen «Lärm» in seinem Verstand zu beruhigen und sich auf eine höhere Bewusstseinsebene zu begeben. Während der Meditation bringt man sich durch die konstante Wiederholung seines Mantras in diesen Zustand der Klarheit. Das eigene Mantra ist das Wertvollste, das man hat. Man muss es geheim halten – es ist der persönliche Schlüssel zum inneren Frieden. TM kann dabei helfen, Beklemmung zu lindern oder seinen Verstand zu beruhigen. Ich sollte es wirklich öfter machen… Das denke ich immer, wenn ich darüber spreche.

MW In welchen Situationen praktizierst du weiterhin TM?

AM Im richtigen Kontext tauche ich sofort darin ab. Als ich in Taiwan war, wollte ich einen einen unglaublich spannenden Ort besuchen, nämlich die UFO-Häuser von Sanzhi. Sie befinden sich an der nördlichen Küste von Taiwan. Die Häuser selbst sehen ausserirdisch aus, so runde Futuro-Kapselgebäude. Ursprünglich war es als Ferienort für amerikanische Militärs gedacht. Dann wurde das Projekt abgebrochen, weil die Zerstörung einer uralten Drachenstatue als böses Omen verstanden wurde. Danach wurden die Häuser von Insekten überschwemmt, insbesondere Gottesanbeterinnen. Das hat mich sofort fasziniert, als ich davon erfahren habe! Ich konnte den Besuch nicht abwarten und bin nach meinem Auftritt im Final in Taipei für ein paar Tage dorthin gereist.

Ich bin den ganzen Weg von der Stadt zur Nordküste der Insel gefahren und verliess dann irgendwann die Autobahn – nur um dort zu sehen, dass alle Häuser abgerissen waren. Zuerst war ich sehr enttäuscht, dann habe ich mich umgeschaut und musste über mich selbst lachen, dass ich ganz allein dorthin gegangen war. Ein grosses Feld voller Trümmer und Ruinen neben einem wunderschönen, friedlichen Strand. Das war noch übriggeblieben. Ich wanderte durch die Überreste der Kapselstadt und habe hier und da Schutt aufgehoben. Ich fand einen sehr süssen Bleistift, dann zog ich meine Stiefel aus und spazierte ins Wasser und habe versucht, die scharfen Steine und Muscheln zu vermeiden. Da fand ich mystisch aussehende pinke Steine. Ich nenne sie Engeleier. Als ich diese Sachen sammelte, sah ich einen riesigen Stein draussen im Wasser. Ich wusste sofort, dass ich darauf meditieren wollte. Ich lief ins Wasser, setzte mich auf den Stein und meditierte eine Zeit lang. Es war herrlich.

Für mich spielt der Kontext beim Meditieren mittlerweile eine sehr wichtige Rolle. Im Trubel von New York konnte ich nicht oft meditieren – eigentlich ironisch, denn dann würde man es am meisten brauchen. In der Regel kann ich meine spirituellen Energien dann besser bündeln, wenn ich in einem geistig empfänglichen Zustand bin.

 

 

MW Besteht eine Verbindung zwischen deiner künstlerischen Praxis und dem Gefühl, das du beim Meditieren kriegst? Aus meiner Sicht hat der künstlerische Prozess viel mit dem Erreichen eines transzendentalen Zustands zu tun.

AM Über diese Verbindung habe ich bisher noch nicht nachgedacht, wenigstens nicht bewusst. Musik machen und TM waren für mich immer ganz natürlich. Beides half mir schon immer dabei, meine psychischen Energie in eine Richtung zu fokussieren und zu verschärfen. Es hilft mir dabei, Raum und Zeit an sich zu finden und einfach zu sein – zu existieren. Musik gibt mir das Gefühl, echt zu sein. Das ist einer der Hauptgründe, warum ich Musik machen. Wie Meditation führt Musik zu einer Öffnung, sie schafft es eine Verbindung zwischen einer himmlischen, überirdischen Sphäre und einem «echten» Gefühl herzustellen. Diese Verbindung leitet mich bei beiden an.

MW Du scheinst dich weiterhin für verschiedene Medien zu interessieren, besonders Zeichentrickfilme und Videospiele, auf die du in deiner Arbeit immer wieder Bezug nimmst. Welches Medium berührt dich am meisten?

AM Ich zeichne schon, seit ich einen Bleistift in den Fingern halten konnte! Als Kind hatte ich immer irgendetwas in den Händen – ein Stift oder eine Kreide. Ich habe immer aktiv etwas gemacht. Mir taten es Zeichentrickfilme sehr an und ich habe mich immer in die neuen Charaktere vernarrt. Es war mein Hobby die Bilder der Charaktere ohne Hintergrund zu sammeln und sie zusammenzubringen. Mir waren Charaktere schon immer am wichtigsten.

MW Zeichnest du immer noch?

AM Ich habe wieder angefangen. An der NYU traf ich Trickfilmzeichner – meine Kollegen Jack Wedge und Dante Capone, zum Beispiel. Die sah man auf dem Campus immer mit Sketchbüchern rumlaufen! Sie haben alles gezeichnet, was sie spürten. Sie haben ihre Realität sprichwörtlich absorbiert. Das hat mich unglaublich inspiriert, auch selber wieder zu zeichnen! Ich liebte ihre freie Herangehensweise zum Zeichnen. Ich entschied, mir ein eigenes Sketchbuch zu besorgen und fing an, Charaktere zu zeichnen, Skulpturen zu machen und auch Videos. Ich bin zu all den Dingen zurückgekehrt, die ich als Kind geliebt habe.

Es ist eine Herausforderung über den Kern meiner Arbeit zu sprechen. Hauptsächlich dreht es sich darum, an einen Ort zurückzukehren, an dem ich frei bin, an dem ich machen kann was ich will, und mich ausdrücken kann, wie ich will. Deswegen bin ich gerne auf der Bühne. Wo sonst kann ich einfach schreien? Ich darf das als Erwachsener nicht. Wenn aber ein Kind in einem Flughafen schreit, kümmert das nicht wirklich jemanden. Ich versuche, diese ursprünglichen kreativen Impulse wiederzuentdecken, Impulse aus einer Zeit, in der mein Ausdruck noch nicht von der äusseren Welt eingegrenzt wurde.

 

 

MW Es gibt bestimmte Kindheitserinnerungen, die ich nicht wirklich in Worte fassen kann. Es sind eher Gefühle. Ab und zu erinnere ich mich an diese Gefühle, wenn sie in bestimmten Momenten in mir aufkommen. Sucht xDream vielleicht nicht nur einen kindlichen Enthusiasmus für Kreation wiederzufinden, sondern auch ein bestimmtes, tiefgründiges Gefühl? Eine Lebenseinstellung, die man nur als Kind hat?

AM Je älter man wird, desto rigider und definierter wird alles im Leben. Als Kind habe ich mich wirklich frei gefühlt – in Bezug auf das Kreieren aber auch einfach nur was das Sein betrifft. Als Kind fühlte ich mich nicht als «kleiner Junge», sondern als freier Geist. In der Adoleszenz legt man Wert auf Körperlichkeit und die damit verbundene, konstruierte geschlechtliche Identität. Zu Beginn meiner Teenager-Jahre, hatte ich das Gefühl, dass ich meine kindlichen Impulse, die ich noch nicht ausgelebt hatte, unterdrücken musste. Ich scheute mich davor, immer noch ein Kind zu sein, diese ungelösten Fragen und diese Neugier über mich selbst immer noch zu haben.

Ich gehe davon aus, dass viele Leute nicht gerne am Gymnasium waren…Für mich war es eine Lüge. Ich habe nicht aufrichtig gelebt. Ich wollte dazugehören, um nicht kritisiert zu werden. Ich wuchs in einem Vorwort voller Schläger auf. Ich hatte nicht wirklich die Möglichkeit, «anders» zu sein, und so wurde ein Grossteil meines Ichs sublimiert. Aus diesem Grund nahm ich mir für meine eigene Kunst vor, mich ohne jede Erwartung oder eigenes Urteil auszudrücken.

MW Das alles klingt wunderbar! Aber in welcher Verbindung steht das zu der Albtraum-mässigen Stimmung in deiner Musik?

AM Diese Atmosphäre auf xDream stammt vom Tod der Kindheit; genauer gesagt, dem Gefühl, die Verbindung zur Kindheit zu verlieren. Die meisten Kinder kümmern sich nicht um Definitionen. Es ist ihnen egal, was sie sind. Sie könnten alle möglichen Dinge sein, warum sich also auf eines beschränken? Viele dieser Träume sterben mit dem Älterwerden. Aber Individualität ist sowieso ein Konstrukt. Die Furcht auf xDream ist der Geist des Kindes, das nicht gesehen und anerkannt werden durfte. Es ist der Geist, der einen auffressen wird. Aber ganz allgemein faszinieren mich furchterregende Sachen! [lacht]

 

 

MW Hast du eine Lieblingsgeschichte? Zum Beispiel ein Märchen, ein Videospiel, Manga oder ähnliches?

AM Ja! So viele! Eine sehr wichtige Geschichte sind die Abenteuer des Pinocchio, die Originalversion, nicht die von Disney, obwohl ich die auch liebe. Ich ging in New York mit meiner Freundin Sofia in eine Bibliothek und borgte eine frühe, aus dem Italienischen übersetzte Ausgabe des Buches. Es ist wunderschön und hat mich zu vielen tiefgehenden, persönlichen Einsichten geführt. Es hat auch den Text von xDream inspiriert. Mir kam es so vor, dass meine Geschichte und die von Carlo Collodi im Original einige Ähnlichkeiten haben.

MW Abgesehen von Selbsterkundung und der Verbindung zu deinem inneren oder vergangenen Ich, was bedeutet es dir, deine Kunst und dadurch auch «dich» mit anderen zu teilen?

AM Ich setze mich mit meiner eigenen Realität auseinander und versuche, sie zu verstehen. Ich mache sicher auch Musik, um mein Bewusstsein zu verstehen; meine Identität und meinen Platz in der Welt kennen zu lernen, vielleicht. Dabei geht es mir aber nicht unbedingt darum, sie anderen vorzuspielen. Für mich ist das alles eine unendliche Erkundung meiner Identität und eine Möglichkeit, mich in verschiedenen Kontexten zu sehen. In meiner Musik zeigt sich das etwa dann wenn ich ein Gefühl einfange, bevor ich seine volle Bedeutung erörtert habe. Sobald etwas fertig, publiziert und geteilt ist, kann ich besser sehen, wo meine Stimme in der Welt hingehört. Es hilft mir zu verstehen, was ich sagen will und wie ich mich fühle, am Leben zu sein.

Musik war schon immer ein Mittel, meine Einsamkeit einzudämmen. Ich hoffe das meine Musik andere ermutigt, ihre Erinnerungen und Kindheitsidentitäten wiederzufinden. Ich fühle mich auch real und bestätigt, wenn ich mich mit anderen teile. Ich finde es erfreulich und wunderschön, wenn Menschen nach einer Show, wie zum Beispiel am Les Urbaines, auf mich zukommen und mich nach meiner Kindheit fragen. Ich hoffe, dass sie sich mit der Welt, die ich für die Performance erzeuge, verbunden oder als Teil davon fühlen. Ich will das Geteilte ins Rampenlicht rücken – unsere Erfahrung, in der gleichen zeitlichen und räumlichen Dimension am Leben zu sein.