25.11.2018 von Remo Bitzi

Lorenzo Senni – «Es gibt kein Entkommen»

Der italienische Experimentalmusiker Lorenzo Senni erkundet verschiedene Bereiche der Rave-Kultur auf eine sehr erfrischende Art und Weise. Einerseits untersucht er seit einiger Zeit Build-ups von Trance und veröffentlicht die Resultate seiner Recherchen auf Tonträgern, die bei Editions Mego, Boomkat Editions und Warp Records erscheinen. Anderseits kultiviert Senni sein eigenes Label namens Presto!?, auf dem er Material von Gabber Eleganza [siehe zweikommasieben #17], Lawrence English & Tom Hall, Evol, DJ Stingray [siehe zweikommasieben #15], Palmistry [siehe zweikommasieben #14], Theo Burt und Mechatok [siehe zweikommasieben #16] veröffentlicht hat.

Genügend Gründe – und Verbindungen – um Senni für ein Gespräch zu treffen. Remo Bitzi tat genau dies für zweikommasieben im September 2018 vor dem von Bad Bonn kuratierten Gig des Künstlers in der Kunsthalle Fribourg. Nachdem sie sich auf die Tribüne des lokalen Fussballklubs, der sich just neben der Venue befindet, gesetzt hatten, unterhielten sich die beiden über ein neues Album, das in der Mache ist, Laser und weitere Obsessionen.

Remo Bitzi Du arbeitest zurzeit an einem neuen Album. Inwiefern beeinflusst dies dein Leben?

Lorenzo Senni Auf Instagram sieht mein Leben nicht sonderlich spannend aus – und in Realität ist es noch weniger spektakulär. Momentan denke ich oft über ganz abstrakte Fragen nach, etwa – und das meine ich ernst – über den Sinn des Lebens: «Was ist diese Sache, die mir so sehr zu schaffen macht?» Es sind tatsächlich Fragen wie diese. Gleichzeitig versuche ich nicht allzu oft darüber nachzudenken. John Cage sagte einmal etwas wie: «Um etwas zu machen, muss man es tatsächlich machen.» Natürlich ist der Denkprozess, das ausformulieren der Gedanken und das Verpacken der eigenen Arbeit in Konzepte sehr wichtig; aber der Moment, in dem man etwas zu kreieren beginnt, ist entscheidend. Während der Arbeit laufen die Gedanken im Hintergrund weiter und sie bekommen endlich einen Sinn.
Mittlerweile kenne ich mich ein bisschen und ich weiss, wie ich funktioniere. Ich habe festgestellt, dass es für mich wichtig ist, viel Zeit mit einer Sache zu verbringen. Ich weiss, dass wenn ich täglich zwölf Stunden in meinem Studio verbringe, etwas passiert. Das ist die Grundlage meines kreativen Prozesses.

RB Dann musst du dich nur lange genug in deinem Studio einsperren und es entsteht etwas Interessantes?

LS Ja. Ich muss jeweils in diesen Zustand kommen, in dem man nicht mehr wirklich weiss, was man macht und sich verliert. Ich bin kein grosser Fan davon, Sachen einfach passieren zu lassen, aber ich weiss einfach, dass ich viel Zeit mit etwas verbringen muss. Das ist eine der wenigen Sachen, über die ich mir ganz sicher bin – es handelt sich um eine einfache Formel: Nehme ich meine Fähigkeiten, ein bisschen Glück und mein Bewusstsein darüber, was ich mag und was ich nicht mag, und kombiniere dies mit Zeit, dann resultiert dies in etwas, mit dem ich zufrieden bin.

RB Wann muss dein neues Album fertig sein?

LS Es gibt eine Deadline, die noch ziemlich weit weg ist. Ich nehme mir jetzt schon genügend Zeit, damit mich die Deadline nicht zu sehr stresst. Bei einem grossen Label unter Vertrag zu sein, bedeutet eben auch, dass die Deadlines brutaler werden.

RB Hast du darüber nachgedacht, bevor du bei Warp unterschrieben hast?

LS Ja und nein. Als ich bei Warp unterschrieb, war die Persona EP [2016] schon fast fertig. Der Druck, wenn man es so nennen will, war also klein. Zurzeit ist die Situation mit dem Label auch nicht stressig, vielleicht wird es das aber zu einem späteren Zeitpunkt sein, vielleicht nicht. Diese Art von Stress will ich aber so gut wie möglich vermeiden. Zurzeit spüre ich nur eine Art von Druck – und die bezieht sich auf die Musik: Bin ich mit dem, was ich produziere, glücklich?

RB Ich finde deine Diskografie sehr spannend: Während Quantum Jelly [Editions Mego, 2012] noch sehr nach in Sound übersetzte Forschung klang, schien Superimpositions [Boomkat Editions, 2014] schon «komponierter». Dein jüngstes Material, Persona und The Shape Of Trance To Come [Warp Records, 2017], kommt ziemlich nahe an herkömmliche Songstrukturen. Mir scheint, als ob du zuerst Recherche betrieben hast, um dich mit Werkzeugen auszurüsten, um dann tatsächliche Songs zu komponieren. Würdest du dem zustimmen?

LS Mit Quantum Jelly wollte ich eine Idee erkunden, die ich hatte. Dieses Album war sehr nahe an dieser Idee und an den paar akustischen Elementen, die damit zu tun hatten. Ich hätte fünf solche Alben aufnehmen können, einfach mit anderen Melodien. Das wäre ganz einfach gewesen – das Rezept war sehr klar. Mit Superimpositions wollte ich diese Idee weiterentwickeln. Ich fügte also ein paar Synth-Lines hinzu und passte die Track-Struktur an – einige Stellen glichen etwa Refrains. Mit Persona entwickelte ich die Sache nochmals weiter. Ich nahm, was ich bis dahin gemacht hatte, und versuchte, daraus Songs oder etwas in der Art zu machen.
Ich mag es, wenn man in der Diskographie von Künstlerinnen den Weg von A nach B nachvollziehen kann. Das ist keine Strategie, die ich für mich anwende – gleichzeitig ist es etwas, das verhindert, dass ich mich zu weit von dem wegbewegt, was den Leuten bis dahin gefiel. Die Art und Weise, wie ich meine Palette entwickle, ist linear: Es gibt gewisse Element, die eine Verbindung darstellen zu dem, was ich davor gemacht hatte. Gleichzeitig denke ich, dass es wichtig ist, sich zu entwickeln. Für mich gibt es den Punkt nicht wirklich, an dem ich ein Projekt abschliesse und ein neues starte. Schlussendlich handelt es sich immer um mich, der über Sachen nachdenkt und Musik macht. Manchmal mache ich dabei kleine Schritte, manchmal grosse.

RB Ich habe gelesen, dass du zurzeit mit Vocals arbeitest was nach einem nächsten logischen Schritt klingt…

LS Ich versuche es. Im Rahmen meines Albums erkunde ich Sachen, mit denen ich bis anhin noch nicht gearbeitet habe. Die Arbeit an einem Album bietet eine gute Möglichkeit, um Neues auszuprobieren – auch wenn die Sachen dann gar nicht auf dem Album zu hören sind. Mit Vocals habe ich jedoch bereits gearbeitet. Dabei war ich immer zufrieden mit dem, was ich abgegeben habe. Aber nur ein einziges Mal waren beide Seiten – also der andere Künstler und/oder das involvierte Label und ich – mit dem Resultat glücklich. Es handelte sich um diesen Song von How To Dress Well, den ich vor einiger Zeit produziert hatte und der auch ziemlich erfolgreich war [«Words I Don’t Remember», erschienen auf Weird World anno 2014]. In Betracht dessen, dass ich nur einmal erfolgreich mit Vocals arbeitete, sehe ich da noch Potential.

RB Du hast einmal erwähnt, dass du nicht mit Samples arbeitest, weil dies für dich einen Kontrollverlust darstellte.

LS Ja. Ich höre und liebe Musik, die aus Samples besteht. Aber in meiner Musik mag ich keine Samples. Ich glaube, ich benutze keine Samples, weil ich sie nicht so einsetzen kann, wie ich das gerne möchte. So verbessere ich aber auch meinen Umgang mit Samples nicht. Es handelt sich um eine Art negative Rückkopplung.

RB …entsprechend nehme ich an, dass du für dein Album mit tatsächlichen Sängerinnen zusammenarbeitest. Schreibst du die Songtexte für sie?

LS Ja, ich arbeite mit tatsächlichen Sängern – ich lade sie in mein Studio ein und dann nehmen wir zusammen Material auf. Und nein, ich habe kein Interesse daran, Lyrics zu schreiben. Mich interessieren Worte als solche nicht. Es gibt einige Songtexte und Gedichte, die ich mag, aber das hat mehr mit den Leuten zu tun, die das Material schreiben, als mit dem Material an sich. Ich selbst kann das aber nicht machen – es ist eine andere Disziplin.

RB Ob du mit Samples arbeitest oder nicht, ob du die Lyrics selbst schreibst oder nicht – das alles sind schlussendlich Optionen, die du verfolgen kannst oder auch nicht. Wie triffst du solche Entscheidungen?

LS Ja, das sind verschiedene Ansätze. Ich könnte mir die Zeit nehmen, um mir einen Umgang mit Samples beizubringen, der zu einem Resultat führt, welches mir gefallen würde. Aber es geht um Zeit. Die beste Entscheidung, die ich wohl je getroffen habe, war es, nur einen Synthesizer zu benutzen – Rolands JP-8000, auf dem man die SuperSaw Wellenform findet.

RB Benutzt du wirklich nur den JP-8000?

LS Quantum Jelly und Superimpositions habe ich ausschliesslich mit diesem Synthesizer gemacht. Bei Persona war der Anteil wahrscheinlich bei 90%; ergänzt mit Synth-Lines eines Access Virus und eines Roland JD-9090. Ich besitze auch andere Synths, aber diese sind für mich nur insofern von Nutzen, um zu realisieren, dass ich doch wieder mit dem JP arbeiten will. Wie könnte ich auch sicher sein, dass ich nicht vielleicht doch einen anderen Synthesizer benutzen wollte, würde ich nur den JP besitzen?

RB Du hast vorhin erwähnt, dass dir lineare Diskografien gefallen. In Anbetracht dessen könnte man sagen, dass du gezwungen bist, dem JP bis in alle Ewigkeit treu zu bleiben…

LS Ich möchte nicht in meinem Sound gefangen sein, gleichzeitig ist es mein Sound. Der Synthesizer ist eine Erweiterung meiner selbst – ich weiss, dass es sich um mein Instrument handelt. Weil der JP ein digitaler Synthesizer ist, weiss ich auch, dass er sehr viel Potential in sich birgt. Und ich bin mir sicher, dass ich noch nicht das gesamte Potential dieses Synthesizers und dessen Verbindung zu meinen Ideen ausgelotet habe. Mit diesem Wissen ist es schwierig, den JP ohne guten Grund hinter sich zu lassen. Gäbe es einen guten Grund, würde ich es vielleicht machen – aber ich müsste überzeugt werden. Die Sache ist die: Bin ich von etwas besessen, heisst das, dass ich sehr viel Zeit damit verbringe. Und schlussendlich hat ein Tag nur 24 Stunden; man muss sich also entscheiden.

RB Du arbeitest auch visuell – mit Bannern und Lasern zum Beispiel. Wie kam das?

LS Die Grundidee hinter den Bannern ist es etwas Statisches hinter mir zu haben, wenn ich spiele. Damit will ich eine Gegenstimme zu diesem Trend hin zu A/V-Shows abgeben. Der Banner an sich ist ein Bezug zur Straight Edge/Hardcore-Szene. Er war dort in zweierlei Hinsichten ein ganz funktionales Tool: a) um den Leuten klarzumachen, wer spielt – was sehr wichtig war, weil an einem Abend 20 lokale Bands spielten und keiner wusste, wer grad auf der Bühne steht. Und b) um visuelle Inhalte verbreiten zu können. Diese Inhalte konnten entweder kohärent mit dem Image der Band sein, oder ganz und gar nichts damit zu tun haben. Bekannte Bands setzten manchmal ihre Logos auf ganz seltsame Weise ein, um das Publikum zu verwirren. So war das damals. Und darum fragte ich einen Freund, ob er nicht für jede Show von mir ein neues Banner machen wollte.
Für mich ist es wichtig, dass es einen Grund gibt, warum die Dinge sind, wie sie sind. Mir macht es nichts aus, wenn jemand kommt und sagt, das alles wäre Blödsinn. Aber ich muss die Sachen mir gegenüber rechtfertigen können.

RB Und die Laser?

LS Die Laser sind eine andere Sache. Für mich haben die Laser etwas mit der SuperSaw zu tun. Offensichtlich sind Laser auch Teil der Rave-Kultur. Aber es ist nicht nur das. Ein Laser – auch wenn er statisch ist – hat für uns Menschen etwas Anziehendes. Ein Laser ist mehr als ein helles Licht. Es ist dasselbe wie bei der SuperSaw, die sehr viele Harmonien bedient, die unser Gehirn gewohnt ist. Es erscheint als perfekt – als sehr reichhaltig und bedeutsam. Laser haben also ähnliche Eigenschaften wie die Wellenform, die ich den ganzen Tag im Studio höre.

RB Im März 2017 schaute ich mir in der Tate Modern Wolfgang Tillmans’ Einzelausstellung an. Nach der Ausstellung wollte ich noch die Tanks auskundschaften, die kurz davor erschlossen wurden. Plötzlich fand ich mich, ohne es zu wissen, in einer Installation von dir wieder. Für mich war diese Erfahrung der simplen Laser- und Audio-Loops total überwältigend. In einer früheren Unterhaltung hast du erwähnt, dass du nicht vorhattest, diese Installation umzusetzen – kannst du das bitte erklären?

LS Die Sache war tatsächlich nicht geplant – zumindest nicht von Beginn an. Ich sollte in den Tanks auftreten und zu dem Zweck wurden Laser und ein PA installiert. Die Leute, die da arbeiten, sagten mir dann, dass ich schon davor etwas abspielen könne, wenn ich wolle. Ich dachte, es wäre schade, das Setup nicht zu nutzen und entscheid mich, etwas zu machen – etwas, das sehr reduziert und einfach ist. Ich nahm also einen Laser-Loop, den ich davor schon im MACBA in Barcelona und im Centre Pompidou in Paris benutzt hatte. Der Loop war Teil des Intros für meine Laser-Shows, die dann aber etwas ganz Anderes beinhalteten. Sie sind sozusagen nette Einladungen. Für mich war diese Installation also keine richtige Arbeit. Es war eher ein Intro für meine Show am Abend. Damit ich diese Arbeit als eine richtige einschätzen würde, müsste sie noch etwas Zusätzliches haben… Dem ist wohl so, weil ich eben Sachen vor mir selbst rechtfertigen muss.

RB Was müsste das denn sein?

LS Die Bestandteile sind alle da, aber es bräuchte noch etwas, das die Arbeit stark und kohärent mit meinem restlichen Output macht. Das hat nichts mit anderen Leuten zu tun. Ich brauche das einfach, um die Arbeit als solche akzeptieren zu können.
Die Arbeit, wie du sie gesehen hast, kann man vielleicht mit folgendem vergleichen: Jemand fällt auf ein Klavier und erzeugt dabei einen Klang, der alle Leute drum herum begeistert: «Oh wow, das klingt grossartig!» Vielleicht ist dem so, weil die Person, die hingefallen ist, seit Jahren Klavier spielt und darum beim Sturz eine bestimmte Körperhaltung einnahm…

RB Eine letzte Sache: Ich habe gehört, dass du deinen Red Bull-Konsum eingestellt hast. Warum hast du das gemacht? Mir schien es, als ob dies dein einziges Laster war…

LS Ich habe so viele Laster… [Lacht] Meinen Red Bull-Konsum eingestellt habe ich aus zwei Gründen: Erstens hatte der Konsum ein Ausmass angenommen, das nicht mehr gesund war. Gott sei Dank, dass ich so sehr von Kontrolle besessen bin – eben auch in Bezug auf mich selbst –, dass ich eine Sucht überwinden kann. Ich konnte vom einen Tag auf den nächsten damit aufhören, obwohl ich davor fünf Dosen am Tag trank. Ich war wirklich besessen… In meinem Studio steht ein Heizkörper, auf dem ich die ausgetrunkenen Dosen verkehrt rum aufstellte, damit die Resten raustropften und verdampften. Das ganze Studio hat nach Red Bull gerochen, es war perfekt.

RB Dieser Effekt sollte Teil deiner Shows werden!

LS Das war er tatsächlich schon einmal. Für eine Show in Mailand übergoss ich einige Stunden, bevor es losging, den ganzen Boden mit Red Bull. Als die ersten Gäste kamen, roch es sehr stark nach dem Getränk und der Boden war klebrig. So bekam man einen Post-Klub-Eindruck. Das Gleiche wollte ich in der Tate machen, aber es wurde nicht erlaubt. Es wäre aber sowieso zu teuer geworden…

RB Kaufst du denn die Dosen selbst?

LS Ich kaufte mir das Getränk tatsächlich, bis zu dem Zeitpunkt, als ich eine Lecture an der RBMA in Montreal gab. Da meinte ich dann: «Leute, ich bin die einzige Person in der ganzen Musikindustrie, die auch wirklich Red Bull trinkt und ich bin der einzige, der dafür bezahlt.» Seither kriege ich Red Bull gratis geliefert. Aber nun ist es zu spät, weil ich habe eine neue Sucht für mich entdeckt – und das ist der zweite Grund, warum ich aufhörte, Red Bull zu trinken. Meine neue Sucht ist ein italienisches Wellness-Getränk namens Holy. Alles in meinem Leben ist Sucht und Besessenheit, wie der JP. Es gibt kein Entkommen.