15.10.2018 von Marc Schwegler

LUFF 2018 – François Bonnet alias Kassel Jaeger

Am Mittwoch, 17. Oktober startet in Lausanne das Lausanne Underground Film and Music Festival LUFF in einen mehrtägigen Reigen aus experimenteller Musik und radikalem Kino. Für uns ein Grund, im Vorfeld François Bonnet einige Fragen zu stellen. Der GRM-Direktor, Musikphilosoph und Komponist tritt unter seinem Pseudonym Kassel Jaeger am Eröffnungabend des Festivals auf und hält tags darauf einen Vortrag – es lohnt sich, nur schon dafür nach Lausanne zu fahren.

Seit 2002 widmet sich das LUFF – das Lausanne Underground Film and Music Festival – dem Kino und Klang experimentierfreudiger Nischen. Vom 17. bis 22. Oktober zeigt das Lausanner Festival einmal mehr eine breite Palette an Bild und Ton, die gängige Seh- und Hörweisen befragen und herausfordern. Zu Gast ist auch der Direktor der legendären Groupe Recherches Musicals (GRM) in Paris, François Bonnet, der unter dem Pseudonym Kassel Jaeger bei Editions Mego und Shelter Press Musik veröffentlicht hat. Zudem hat Bonnet mit seiner 2016 auf englisch bei Urbanomic erschienen Studie The Order of Sounds ein Buch vorgelegt, das gängige Vorstellungen und Modelle von Klang und wie man ihn hört, kritisiert. Überzeugend macht es sich für eine nicht reduzierbare Vielfältigkeit und eine Unverfügbarkeit allen Klangs stark und analysiert, wie wir dafür sorgen, dass Klänge zu uns sprechen und sie damit auf ein Gehörtes reduzieren.

Der Versuch einer Individuation von Klang, um dessen Essenz herauszustellen, müsse sich zwangsläufig immer auf von Klang losgelöste Bedeutungszusammenhänge beziehen, argumentiert Bonnet etwa. Ein als autonom begriffener Klang, schreibt er, sei immer schon das Resultat eines Hörens, und damit immer auch dem Einfluss von Bedeutungsregimen unterworfen. Das Klingende (engl. »the sonorous«, im frz. Original »le sonoré«) an sich ist für Bonnet im Gegensatz zu dem, was sich zu hören gibt, nicht fassbar. Klang, als Verschränkung zwischen dem Klingenden und dem Hörbaren, sei nicht als Objekt zu begreifen, so Bonnet, sondern eher als Objektil im Sinne von Gilles Deleuze; «[…] a modulated, fugitive instance which is destined to disappear». Es gelte, die Suche nach einer Natur von Klang aufzugeben. Stattdessen sei die Konfrontation mit dem Nicht-Fassbaren, dem Nicht-Wahrnehmbaren zu suchen, um Unsicherheit erfahrbar zu machen.Das ist nun wahrlich ein völlig anderes Verständnis von Klang, als dies noch der GRM-Gründer Pierre Schaeffer vertrat. Im Gegensatz zu dessen Vorstellung eines isolier- und fixierbaren Klangobjekts – die zentrale Grundlage für die Entwicklung der Musique Concrète und ihrer Nachfolger – wird bei Bonnet Klang zum flüchtigen Moment auf der Schwelle zwischen einer letztlich nicht wahrnehmbaren Sonosphäre und einer immer nur partikularen, historisch kontingenten Wahrnehmung.

The Order of Sounds sei in diesem Sinne eine Anti-Ontologie, so liess uns Bonnet wissen, die darauf insistiere, dass Erfahrung und Wahrnehmung nicht letztgültig in Worte übersetzt werden könnten. «Und während ich dies beim Schreiben eigentlich nur betone, so tauche ich mit meiner Musik darin ein. Meine musikalische Praxis ist eine Übersetzung meiner theoretischen Arbeit ins Unaussprechliche.» Die Kritik an GRM-Urvater Pierre Schaeffer hätten die meisten Leute schon richtig verstanden – nämlich als Möglichkeit, dessen Theorien weiter zu reflektieren anstatt sie einfach zu verwerfen. «Natürlich – Andere haben das nicht verstanden und sich bedroht gefühlt», meinte Bonnet in seiner Mail an uns. «Diejenigen, die sich da am Meisten hervorgetan haben, waren natürlich so genannte und letztlich selbsternannte Schaefferianer». Ansonsten seien die Rückmeldungen auf sein Buch aber sehr gut gewesen – von Theoretikerinnen, Künstlerinnen, Komponisten und Studenten. Jedesmal habe das Feedback auch einen anderen Aspekt seiner Studie betont, so Bonnet. «Das bestätigt für mich, dass ein Buch immer etwas Magisches ist. Es ist eine Stimme, die sich dann in einer Konstellation von Lesungen multipliziert».

Das Beharren auf der Vielfältigkeit von Erfahrungen und Wahrnehmungen leitet François Bonnet auch in seiner Tätigkeit als GRM-Direktor. 60 Jahre nach der Gründung des Instituts müsse es auch als etablierte Institution weltoffen bleiben und den Austausch suchen. Die GRM sei immer noch sehr aktiv, ja gar vielleicht aktiver denn je. «Die GRM hat immer noch die Aufgabe, experimentelle Musik und speziell akusmatische und konkrete Musik, zu promoten. Und dies geschieht über kommissionierte Werke aus unseren Studios, die vor Publikum aufgeführt werden. Und auch die Forschung ist für uns immer noch ein wichtiger Teil – was die theoretische Arbeit angeht, aber auch in der Entwicklung von Software.» Die Tätigkeit des GRM sei von ungebrochener Relevanz – gerade auch für jüngere Künstlerinnen, die nach Traditionslinien für ihre Praxis suchten. «Die Pioniergeschichte des GRM kann ihnen viel vermitteln. Die vergangenen 60 Jahre des Experiments waren ein riesiger Prozess von ‹Trial and Error› – und davon kann man einiges lernen», so Bonnet.

Diesen Austausch und der Kontakt mit unterschiedlichen Kontexten lebt Bonnet aktiv vor. Neben seinen akademischen Tätigkeiten veröffentlicht er als Künstler und als Autor auch in nicht- oder para-akademischen Zusammenhängen – eben bei Verlagen wie Urbanomic und Labels wie Editions Mego. Und er tritt auch in anderen Kontexten auf – wie sein Auftritt beim LUFF belegt. «Auch dabei geht es mir darum, den Austausch zu suchen und auf neue Initiativen zu treffen. Die Akademie war vielleicht tatsächlich zu lange ein Elfenbeinturm. Das führt aber letztlich dazu, dass die entsprechenden Institution in Vergessenheit geraten. Die GRM war aber ursprünglich lange eine Aussenseiter-Institution – akademisch geführt, klar, aber von älteren Musik-Akademikern mit Verachtung gestraft… Wir haben aus dieser Erfahrung gelernt und versuchen, Ähnliches nicht zu wiederholen.» Obwohl die akademische und die nicht-akademische Musikwelt sich in Bezug auf Referenzen, Ästhetiken und Aufführungspraxis oft noch sehr deutlich unterscheiden, so existieren für Bonnet durchaus fruchtbare Überschneidungen. Und er vermag der akademischen Welt auch Vorzüge abzugewinnen. «Der zeitliche Massstab ist sicher ein anderer», so liess er uns wissen,«und vielleicht ist das gerade in unserer Gegenwart ganz gut so. Wir haben nicht das Gefühl, uns der Mode und dem Trend beugen zu müssen. Wir glauben an unsere eigenen ästhetischen Pfade, die etwas weniger von Hysterie und Hype geprägt sind.»

Am LUFF tritt François Bonnet als Kassel Jaeger an der Eröffnungsnacht vom 17. Oktober auf – nach Phill Niblock, der zu seinem 85. Geburtstag einen Auftritt mit vier Solo-Stücken bestreitet. Zudem hält Bonnet tags darauf einen Vortrag: Unter dem Titel «Infra-Lucidité» folgt er den Überlegungen, die er in The Order of Sounds bereits dargelegt und in einem letztes Jahr ebenfalls bei Urbanomic erschienen Essay (The Infra-World) generalisiert hat. Wir legen unserer geschätzten Leserschaft den Besuch des Festivals wärmstens ans Herz – wie jedes Jahr vereint es eine erfreuliche Vielfalt an abenteuerlustigem Musik- und Filmschaffen. Mehr Infos gibt’s unter anderem auf Facebook.