17.08.2013 von Marc Schwegler, Judith Blum

Jungle-Zombologie mit Lee Gamble

Seit mehreren Jahren als Produzent und Teil des CYRK-Kollektivs aktiv war Lee Gamble lange Zeit vor allem für abstrakte Computer-Musik bekannt – und dies auch nur in eingeweihten und interessierten Kreisen. 2012 bekamen seine beiden Releases auf PAN jedoch breitere Aufmerksamkeit und hervorragende Kritiken. Als ehemals aktiver Teil der Jungle-Szene rekontextualisiert und aktualisiert er auf der 25-minütigen EP Diversions 1994-1996 Samples von damaligen Mixtapes. Sein im Dezember des letzten Jahres erschienenes Album Dutch Tvashar Plumes beschäftigt sich dagegen mit Acid House und Techno, wobei auch hier Momente der Dekonstruktion und Reflexion überwiegen.

Am Tag nach dessen Performance im Berliner Berghain trafen Marc Schwegler und Jamal Al Badri von zweikommasieben den Engländer zum Gespräch.

MS Du sprichst morgen an einer Podiumsdiskussion im Rahmen des diesjährigen CTM Festivals zum Thema «The Death Of Rave». Weisst du schon genau, um was es gehen wird?

LG Nein, ich weiss es ehrlich gesagt nicht wirklich. Natürlich kenne ich Steve Goodman, der morgen auch da sein wird, Mark Fisher und natürlich die CCRU. Ich habe Nick Lands Buch gelesen, ich kenne diese Denkschule also schon ein bisschen. Aber um was es genau gehen wird – keine Ahnung. Ich bin darum auch schon etwas nervös, ehrlich gesagt. An einer Podiumsdiskussion vor Leuten zu sprechen – naja, ich bin gespannt.

MS Hatte die CCRU oder insbesondere Nick Land auch einen gewissen Einfluss auf deine Arbeit?

LG Nun ja – ich finde seine Sachen interessant, aber nicht unbedingt in Bezug auf Musik. Ich mag, wie er Sprache dekonstruiert, wie er Sprache verwendet. Auf Dutch Tvashar Plumes gibt es aber schon eine Referenz an ihn – der Track Barker Spirals basiert auf einem numerischen System und einer Figur aus Lands Œuvre.

MS Hast du studiert?

LG Nein, ich habe nicht «wirklich» studiert. Die Schule hat mich überhaupt nicht interessiert. Ich erinnere mich an meinen letzten Schultag, an dem ich beinahe ein Erweckungserlebnis hatte im Stil von: «Fuck! Diese Leute wollten mir etwas beibringen – und mir ist das völlig egal.» Ich bin dann ans College und habe danach ein paar Jahre gearbeitet. Danach bin ich aber nochmals zur Uni – Middlesex – für die ich immer noch Schulden abzuzahlen habe… Ich war in Birmingham, musste da aber raus – ich hab da nur Scheiss-Jobs gemacht und dachte, ich muss was für mich tun und bin nach London gezogen. Also habe ich ein Studium angefangen, einen Studiengang mit dem Titel Sonic Arts – eben an der Middlesex. Das habe ich dann drei Jahre studiert. Das war nicht wirklich akademisch – es ging eher in die Richtung: «Hier habt ihr jede Menge Zeugs, macht was draus.» Es war sehr offen – von daher glich es eher einem Master-Studiengang, obwohl es nur ein Bachelor war.

Ich habe da ein bisschen Programmieren gelernt, aber vor allem konnte ich endlich das tun, was ich wollte. Ich habe daneben zwar immer noch gearbeitet, konnte aber tonnenweise Bücher und Texte lesen, viel über Dada und Konstruktivismus etc. Zurückblickend habe ich da viel über Komposition gelernt. Als ich das erste Mal in einen Raum voll mit Geräten kam, stand ich davor und dachte, «wie zur Hölle soll ich daraus ein vierminütiges Stück machen?» Aber ich habe einfach angefangen, dabei mich an gewissen Vorbildern orientiert und so lange es nicht wie die geklungen hat, habe ich nicht aufgehört.

MS Glaubst du also, dass diese Institutionen tatsächlich noch Orte der Innovation sein können?

LG Ja, das glaube ich schon. Manches mag erzwungen sein, aber trotzdem. Ich meine, du bekommst Raum, Equipment, Unterstützung – wenn du dann nicht kreativ sein kannst und etwas daraus ziehst, solltest du wohl wirklich etwas anderes machen. Es muss ja nicht gut sein, was du machst – aber du solltest da schon animiert werden, etwas zu tun. Ich fand es immer interessant mit verschiedenen Systemen und Konzepten in Berührung zu kommen und Dinge zu implementieren. Weil ich keine musikalische Ausbildung genossen habe, glaube ich, gehe ich immer noch mit einer grossen Offenheit an die Dinge heran. Der Kurs, den ich gemacht habe, war nicht dem Music Departement der Uni angegliedert – wir waren einfach in diesem kleinen Bunker, für uns – ein kleiner, schräger Ort. Es war wirklich cool, ich habe die Zeit da sehr genossen.

MS Verschiedene Leute, die ursprünglich aus der Dance-Music kommen, scheinen sich im Moment eher davon weg zu bewegen. Nach deinem Set gestern Abend im Berghain hatten wir aber eher das Gefühlt, du bewegst dich wieder zurück zum Dancefloor. Täuscht das?

LG Vielleicht. Ich bin ja mittlerweile in meinen Dreissigern und denke mir: «Fuck, meine Jugend ist vorbei…»

MS Ist das also der Fall?

LG Naja, ich war immer an Dance-Music interessiert. Das ging nie weg. Natürlich war ich mal näher dran und dann wieder weiter weg, aber ich habe Musik nie im Konservatorium konsumiert oder war Teil einer Rock-Band. Als ich in England aufgewachsen bin war Brit Pop einfach scheisse. Bands wie Oasis und diese anderen flachbrüstigen Wichser – eine verdammte Horrorshow. Natürlich dachte ich da «ja, scheiss auf das». An elektronischer Musik war ich aber immer interessiert; ich war immer schon fasziniert von elektronischen Sounds. Und was die Musik angeht, die ich heute mache: Die hatte immer schon einen rhythmischen Aspekt. Ich habe tonnenweise Material, das ich nicht releast habe – einer der Tracks auf dem Album zum Beispiel ist sechs Jahre alt. Ein paar Sachen die ich gestern gespielt habe, also das «neue» Zeug, ist eigentlich alt.

MS Du denkst also, dass es diesen Crossover mittlerweile gibt?

LG Ja, das glaube ich tatsächlich. Natürlich gab es immer schon vereinzelte Bemühungen, aber nicht in dieser Breite. Ich habe mich kürzlich mit Ben UFO unterhalten: Er hat meine Sachen in letzter Zeit oft gespielt. Wir haben einen gemeinsamen Bekannten und dieser Bekannte hat ihn wohl auch mit experimentellerer Musik in Berührung gebracht. Was ich damit sagen will: Die Dance-Music-Szene ist momentan interessierter an experimenteller Musik als auch schon. Umgekehrt gilt das aber eher weniger, glaube ich. Denn auch ich sagte mir nicht «okay, ich erreiche jetzt diese Dance-Kids, also produziere ich entsprechend». Das war überhaupt nicht die Idee – da gab es keine Idee. Ich hätte die Musik so oder so gemacht. Ich bin interessiert an der Mischung von verschiedenen Aspekten und darum finde ich, dass es eine interessante Zeit ist, in der wir leben. Es ist ziemlich aufregend. Ich weiss nicht was passiert, aber es fühlt sich auf jeden Fall interessant an. Eine neue Generation Zwanzigjähriger – während ich schon 35 Jahre auf dem Buckel habe… Naja, verschiedene Perspektiven – und das ist doch eine gute Sache.

MS Glaubst du, das ist auch einer der Gründe für den momentanen Erfolg von PAN? Gerade die grossen Online-Technoplattformen hatten Ende des Jahres jede Menge PAN-Scheiben in ihren Top-Listen.

LG Ja, genau. Das ist genau was ich vorhin meinte: Diese Leute, wenn du es so zusammenfassen willst, sind interessiert an experimentelleren Inhalten. Und die entdecken jetzt halt diesen ganzen Kanon an neuer Musik. Obwohl viele der PAN-Leute ja schon lange unterwegs sind und auch Erfolge feiern konnten, erreichen sie damit ein neues Publikum. Und das ist schon verrückt: Man könnte meinen, dass viele der Leute, die das jetzt feiern, früher von dem Sound beeinflusst wurden, was aber nicht sein kann, weil sie ihn gar nicht kannten. Das ist doch wahnsinnig spannend: Es zeigt, dass nichts tot ist und dass man die Ströme wiedervereinen kann. Da vom «Death of Rave» zu sprechen – naja…

MS Apropos «Death Of Rave» – da wird ja oft Jungle als letzte wirklich neue musikalische Bewegung bemüht. Du hast ja auch einen Jungle-Background. Denkst du, dass Jungle – Retromania-mässig – als nächstes wieder aufgewärmt wird?

LG Ich hoffe nicht. Ich meine, grundsätzlich habe ich ja nichts gegen diese Revisionismen. Aber der Punkt ist doch, dass die schon tot sind, bevor sie wirklich anfangen. Nimm zum Beispiel das Acid House-Revival, das vor kurzem begonnen hat: In meinen Augen gibt es nur 30 gute Acid House-Releases – jetzt metaphorisch gesprochen. Damit hat sich’s. Und jetzt will man das Ganze ausgraben und noch einmal totspielen? Ich weiss nicht. Natürlich hat alles irgendwann sein Comeback. Aber ich persönlich möchte nicht an eine Clubnacht, wo der Neunziger-Jungle zelebriert wird. Das hat doch diesen «Dad Rock»-Touch, das ist wie wenn Sohnemann und Pappi, gemeinsam die Musik des alten Herrn hören. Fuck that, das ist doch so falsch. [Lacht] 

Nun ja, anderseits, gewisse Aspekte der Sounds wieder aufzugreifen, damit zu spielen – natürlich, das kann interessant sein. Es war ja schliesslich auch eine interessante Geschichte in den Neunzigern. Kulturell, musikalisch, die ganze soziale Dynamik in England – da kann man jede Menge Häkchen machen. Wenn man diese Aspekte wiederbeleben kann – dann, ja Mann, auf jeden Fall, tut es! Musik muss sich auf irgendeine Art bewegen, da nur immer zurückzukehren, kann nicht die Lösung sein. Ich glaube, es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen dem Rückgriff auf gewisse Aspekte und der puren Reproduktion. Ich habe mit Diversions 1994 – 1996 kein Jungle-Album gemacht. Ich kann keinen Jungle produzieren wie anno 1994. Das würde ich nie tun. Ich würde mir nie ein Drumpattern von Photek – der die wunderbarsten Sachen gemacht hat – nehmen und mir sagen «joah, das mache ich jetzt auch.» Das darf man nicht. Photek hat Jahre damit verbracht, das herauszuarbeiten. Also werde ich das sicher nicht tun.

Um die Frage noch zu beantworten; Ja, ich denke, Jungle wird zurückkommen – ich hoffe einfach, es wird auf eine nette Art geschehen; dass sie ihn anständig behandeln. Man kann nichts verhindern – das ganze Zeug ist eh auf YouTube, also sollen die Leute etwas draus machen – aber bitte etwas Interessantes. Ich verstehe ja, dass man das Ganze faszinierend findet – der Sound ist immer noch absolut erstaunlich. Aber jetzt davon eine hyper-reelle Version zu erstellen macht keinen Sinn. Damit macht man nicht nur die Musik kaputt, sondern auch die schrägen Erinnerungen, die man noch daran hat. Gewisse Dinge sollte man ruhen lassen. Sie sind passiert, sie sind fort – und das ist cool. Man sollte doch einfach auch geniessen, was im Moment abgeht. Wäre doch scheisse, wenn man in zehn Jahren sagen müsste, «verdammt, ich habe das verpasst, weil ich damals über 1994 nachgedacht habe».