09.06.2018 von Remo Bitzi

Derrick May — «It’s Love, Man!»

Mitte der Achtziger erfand Derrick May zusammen mit Juan Atkins und Kevin Saunderson in einem Detroiter Vorort den Techno. Das sollte eigentlich als Einführung für den Künstler reichen – und tat es auch für das Interview mit May, welches in zweikommasieben #5 veröffentlichte wurde. 

Remo Bitzi traf auf Derrick May Ende September 2012, als der Künstler gemeinsam mit Mercury im Berner Club Bonsoir spielte. Ausgabe #5 von zweikommasieben erschien dann einige Monate später und enthielt folgende Konversation zwischen den beiden.

Remo Bitzi Ich habe einige Interviews von dir gelesen. Dabei hatte ich den Eindruck, dass du gerne in Bildern sprichst. bist du ein visueller Mensch?

Derrick May Ich glaube ja. Ich mache so ziemlich von allem ein Bild in meinem Kopf. Dabei ist es mir aber wichtig, die Ideen auch umzusetzen. Viele Leute machen letzteres nicht. Beim Umsetzen bin ich aber sehr willkürlich… und ich lerne ständig dazu. Beispielsweise von meiner achtjährigen Tochter, sie macht die unmöglichsten Sachen. Dabei bin ich mir bewusst, dass sie ihre Kreativität von mir und ihrer Mutter hat. Darum erinnert sie mich immer wieder daran, zu was ich fähig bin. Ich lerne viel von ihr. Es ist faszinierend.

RB Mit welchen Medien setzt du deine Ideen visuell um?

DM Fotografieren ist mein Ding! Ich habe eine ziemlich coole Kamera. Sie ist von Ricoh und kombiniert das Beste aus beiden Welten, tighte deutsche old school Linsen und supereffiziente japanische Technologie. Die Kamera ist digital und analog zugleich.

RB Fotografierst du nur für dich oder publizierst du deine Bilder?

DM Ein paar meiner Fotos wurden veröffentlicht. Ich arbeite momentan sogar an einem Buch, das in Japan veröffentlicht wird. Japan ist für mich gerade der einzige Markt… Da werde ich übrigens auch eine neue Platte veröffentlichen. [Zeigt ein PDF mit dem Artwork der Platte auf seinem iPhone] Die Fotografien sind von mir. Das Artwork ist aber von einem Grafiker aus Tokyo.

RB [auf ein Bild mit Häusern zeigend] Ist das in Detroit?

DM Ja, das ist mein Haus.

RB Wie lebt es sich momentan in Detroit?

DM Detroit ist nicht eine dieser Städte, die eine Wiedergeburt erleben werden. Es gibt zwar viele kleine Renaissancen – viel leicht eine Strasse, die wieder aufblüht oder eine Gemeinde, die sich weiterentwickelt. Es wird aber nicht diese grosse Explosion mit viel Geld im Hintergrund geben. Das wirdnicht passieren… Vielleicht ist der Grund dafür geografisch oder politisch oder es hat etwas mit Rasse zu tun – ich weiss es nicht. Es macht eigentlich aber keinen Sinn, dass eine amerikanische Stadt an solch einer wichtigen Lage – direkt an der Grenze zu Kanada – verelendet. 1966 lebten drei Millionen Leute in Detroit; heute sind es noch 700’000. Das ist nicht viel, man… Die europäische Wirtschaftskrise spürt man in der Schweiz kaum. Aber man hört in den Nachrichten davon. Und man kennt Leute aus Ländern, die betroffen sind. Man weiss also dass einige Leute gerade harte Zeiten durchmachen. Weil Detroit eine Industriestadt ist, ist das gerade ein Dauerzustand. Eigentlich leben wir davon, dass andere Leute Sachen kaufen. Wenn Leute aber nicht mehr konsumieren wollen oder können, verlieren wir scheiss Geld – und damit Jobs. Detroit wurde nicht auf die Zukunft vorbereitet. Wenn die Welt leidet, stirbt Detroit…

RB Wolltest du denn nie weg?

DM Doch, klar. Ich bin ja kaum da. Aber schlussendlich ist Detroit mein zu Hause… Die Stadt hat etwas – es besteht eine Verbindung zwischen dieser Stadt und mir.

RB Hast du eine Ahnung woher diese Verbindung kommt?

DM It’s my home, man… Bist du von hier?

RB Nein, ich bin aus Luzern, das ist zirka eine Stunde von hier entfernt.

DM Ich kenne Luzern. Sehr gut sogar. Ich spielte da ein paar Mal – vor Jahren. Da gab es einen Promoter… ein grosser Typ, kurze Haare, ein Brown Skin Fella. Seinen Namen hab ich vergessen. Soweit ich mich erinnern kann, heisst seine Freundin Susi. Das war vor Ewigkeiten, vor acht oder neun Jahren. In Luzern hatte es ein paar sehr interessante Leute; es war ziemlich cool. Ichhatte viel Spass da…

RB [auf ein anderes Bild mit etlichen geräten zeigend] Ist das dein Studio setup?

DM Das war es. Vor langer Zeit. Ich arbeite momentan nicht. Aber wenn ich Musik machen würde, dann mit diesem Setup.

RB Alles klar. Was ich jedoch nicht verstehe ist, dass Musik, wie du sie Mitte der achtziger geschrieben hast, die entsteht nicht ohne starke künstlerische Vision. Was ist damit passiert?

DM Für mich war Musik zu produzieren romantisch. Diese Romantik fühl ich nicht mehr. Und solange ich sie nicht fühle, werde ich auch keine eigene Musik schreiben. …It’s love, man!

RB Jammst du denn manchmal so vor dich hin?

DM Ab und zu. Aber der Typ in diesem Studio [zeigt auf das Foto auf seinem iPhone] ist ein anderer Typ. Das war ein junger Mann, der die Welt verachtete. Und sie gleichzeitig liebte.

RB Vermisst du das denn nicht?

DM Oh, doch, das vermisse ich. Definitiv. Denke nicht, ich tue das nicht, man!

RB Heute arbeitest du als DJ. Hast du einen ähnlichen Approach wenn du auflegst, wie du ihn hattest, als du deine eigene Musik produziert hast?

DM Ich glaube schon.

RB Gibt es denn für dich überhaupt einen Unterschied zwischen diesen beiden Aufgaben?

DM Gute Frage. [Überlegt kurz] Verdammt gute Frage. [Überlegt nochmals] Meine ehrliche Antwort – es ist etwas komplett anderes. Man kann nicht gleichzeitig DJ und Produzent sein. Ich weiss, es gibt viele, die beides gleichzeitig machen; aber das geht nicht. Um Musik zu produzieren, sollte man sich komplett isolieren – das Eine darf das Andere nicht beeinflussen; sonst macht man lediglich die Musik, wie man sie schon auflegt.

RB Es gibt ja Leute mit einem DJ-Hintergrund, die produzieren, nur weil sie nicht die Musik finden können, die sie spielen wollen…

DM Das ist OK. Das ist ähnlich, wie Remixes zu produzieren – und Remixes sind etwas anderes. Aber etwas Eigenes zu komponieren – eine Blume zu kreieren – dafür muss man sich in meinen Augen wegsperren.

RB Wie ist das denn mit dem Auflegen? Was daran magst du am liebsten?

DM Die Leute wissen nicht wie toll es ist, in ein Land zu kommen, wo man keinen kennt, keine Freunde, Familie, keine Verbindung zu diesem Ort hat, aber die Leute unterhalten muss. Das istunglaublich toll… Das ist aber auch mit Druck verbunden, man muss gut sein. Man muss spielen, als ob man diese Leute schon sein ganzes Leben lang gekannt hätte…

RB Ist das in deinen Augen das Schwierigste an diesem Job?

DM Nein. Eher, dass man mit den Leuten die man trifft, keine wirkliche Freundschaften auf bauen kann. Zwar entsteht auf der Tanzfläche oder beim Abendessen eine Art Verbindung, aber das sind keine wirklichen Freundschaften… Als DJ sagt man öfter «Tschüss» als «Hallo». Zum Beispiel vor langer Zeit, vielleicht vor zehn Jahren, war ich bei meiner Mutter zu Besuch. Dann musste ich los um einen Flug zu erwischen. Meine Mutter war im Obergeschoss und faltete Wäsche – jeder hat eine Mutter, die an Sonntagnachmittagen im Obergeschoss Wäsche faltet; egal wo man wohnt, egal ob man reich oder arm ist, man hat eine Mutter, die an Sonntagnachmittagen Wäsche faltet. Wie auch immer. Ich musste zum Flughafen. Ich nahm also meine Tasche und verliess das Haus. Fünf Stunden später rief mich meine Mutter an und fragte, wo ich sei. Ich daraufhin, «na, ich bin doch bereits weg.» Und darauf sagte sie, «du hast dich nicht verabschiedet.» Da merkte ich, dass ich wegen meines Jobs so daran gewöhnt bin fortzugehen, dass ich tatsächlich vergessen hatte, mich bei meiner eigenen Mutter zu verabschieden.

RB Würdest du sagen, dass dein Job dich einsam macht?

DM Diese Frage hat zwei Aspekte. Einer davon ist dass der Job dich einsam macht, aber ich bin doch nicht alleine. Der andere Aspekt ist, dass man sich entscheiden muss, wo die Prioritäten liegen. Meine Priorität ist es eine Mission zu erfüllen, die Welt vor schlechter Musik retten.

RB [zögernd] …das ist eine sehr schwierige Mission.

DM Sie ist sogar unmöglich!

RB [erleichtert] Ich bin froh, dass du das sagst.

DM Ich bin mir bewusst, was ich tue. Und ich bin ein tapferer Kämpfer. Dazu kommt, dass ich in dieser Hinsicht eben nicht alleine bin.

RB Ich finde es wichtig, dass es Leute mit solchen Missionen gibt – obwohl schlechte Musik wohl nie aussterben wird… Ist der Kampf nicht manchmal auch frustrierend?

DM Oh, ja, klar, sehr sogar. Das Frustrierendste ist, dass ich z.Bsp. in einen Klub komme und die Musik, die gespielt wird, ist schrecklich. Dann investiere ich fünf oder sechs Stunden meiner Zeit und spiele den Leuten gute Musik vor. Oft gefällt es ihnen – sie haben die beste Zeit ihres Lebens. Und dann kommt der nächste DJ und spielt das übliche Bullshit Programm. Es ist, als ob ich ein Haus gebaut und es eingerichtet hätte. Zur Begrüssung kochte ich sogar eine Mahlzeit. Dann kommen die neuen Bewohner und machen scheiss Ketchup über das Essen…

RB [lacht] Schöne Metapher! … Magst du über dein Set von gestern reden?

DM Klar.

RB Du hast einen Track von Donna Summer gespielt…

DM Ein Remix. Der war gut, nicht?

RB Ja, sehr.

DM Der ist von Sterac, Steve Rachmad.

RB Was ist dein Verhältnis zu Donna summer?

DM Ich hörte ihre Musik als ich ein Kind war. Dabei faszinierte mich aber eher Giorgio Moroder. Sein Album E=MC2 und der Soundtrack von Battlestar Galactica sind ziemlich cool.

RB War er denn ein Einfluss für deine Produktionen? Oder hattest du eher eine weisse Leinwand vor dir, als du Musik wie auf Strings Of Life produziert hast?

DM Eher das Letztere. Viele verschiedene Sachen – und bestimmt auch die Musik von Giorgio Moroder – waren Teil meiner Entwicklung. Aber eigentlich wollte ich – und auch die anderen Leute, die heute mit Detroit Techno in Verbindung gebracht werden – mich auf nichts beziehen.

RB War das eine bewusste Entscheidung, dass ihr euch auf nichts beziehen wolltet?

DM Wir waren nicht Teil von dem, was um uns herum passierte. Es interessierte uns nicht – und das schon ziemlich früh. Wir waren da vielleicht zwölf Jahre alt. Als wir dann 16 waren, hatten wir ein komplett eigenes Gedankengut. Wir wurden von nichts beeinflusst – weder vom Radio noch von sonst etwas. Wir waren quasi kleine Jedi Ritter. Als wir dann endlich die Chance hatten, Musik zu machen, so wie wir das wollten, war der Output so anders und fremdartig, dass die Leute perplex waren. Entsprechend interessierte es niemanden, was wir machten. New York wollte nichts von uns wissen; Chicago gab es damals so noch nicht. Keine Plattenfirma interessierte sich für uns. Ich schickte «Strings Of Life» an jedes Label der Welt. Ich bettelte darum, dass jemand den Track veröffentlichen würde. Keiner wollte es tun. Keiner. Dann gründete ich Transmat und machte es selber.

RB Denkst du, dass ein Meilenstein wie es damals die Begründung von Techno war, heutzutage überhaupt noch möglich ist?

DM Nein. Zumindest nicht im selben Rahmen. Wobei so etwas natürlich passieren sollte. Unbedingt. Es muss eine neue kreative Explosion geben. Es kann nicht sein, dass die Entwicklung hier endet… Vielleicht war Steve Jobs die kreative Explosion unserer Zeit; vielleicht die Weiterentwicklung des Computers, die dazu führt, dass es viele neue Produzenten und DJs gibt. Vielleicht haben wir sie einfach nicht bemerkt, weil die Auswirkungen heute anders sind als damals.

RB Vielleicht brauchen wir auch einfach mehr Zeit um zu realisieren, was passiert ist?

DM Das mag sein… Man nimmt ja auch immer zuerst das Schlechte wahr – in unserem Fall, dass die Leute Technologie benutzen, um kreativ zu wirken. Momentan wissen wir darum nicht, wer kreativ ist und wer es faken kann. Vielleicht müssen wir darauf warten, bis sich Leute mit anderen Technologien ausdrücken können… Fakt ist doch, dass wir mit einer Generation konfrontiert sind, die sich noch nicht komplett entfaltet hat, die Kreativität aber auf ein neues Level hieven wird. Meine Tochter wächst mit einem iPhone, mit dem Internet, mit einem Laptop auf. Für sie ist das alles ganz normal. Für sie ist es beispielsweise auch langweilig via Skype mit ihrem Daddy zu sprechen… Vielleicht braucht es wirklich einfach nur Zeit.

RB Zurück zu deinem Set. Es gab einen zweiten Track, den ich ansprechen wollte und zwar «Rej» von Âme. Den hast du auch neulich im Boiler Room gespielt.

DM «Rej» spiele ich seit sechs Monaten wieder ziemlich oft. Der Track ist sozusagen mein neuer «French Kiss»… Ich suche immer wieder nach alten Platten, die erneut gehört werden sollten.

RB Ich freute mich sehr, als du «Rej» gespielt hast. Ich persönlich verbinde nämlich sehr viel damit, da ich, als der Track veröffentlicht wurde, so richtig angefangen habe, mich für diese Musik zu interessieren. Für mich ist der Song einzigartig.

DM Das ist er auf jeden Fall. Er schlägt ein. [Singt die Melodie] …wow! Und plötzlich kommen die ganzen Erinnerungen zurück – und all diese guten Gefühle.

RB Genau. Was sind deine Erinnerungen zu diesem Song?

DM Als ich den Song zum ersten Mal hörte, war ich begeistert. Ich wollte die beiden Jungs von Âme unbedingt treffen. Die beiden haben ein paar grossartige Platten veröffentlicht. Ich war ein Fan. Wir haben uns dann aber nie getroffen… Es gibt Songs, die für einen bestimmten Moment stehen. Das muss ein DJ verstehen. Ich glaube auch, dass ein DJ die Fähigkeit besitzen muss, das Publikum mit einem Song in eine andere Zeit zu versetzen. Hat der DJ das Publikum einmal in einen vergangenen Moment entführt, kann er es von da aus überallhin mitnehmen…

RB Das ist noch etwas anderes, das mir gestern im Klub aufgefallen ist. Du hast oft die Kick Drum weggelassen. Techno ist kick Drum. Wieso also machst du das?

DM Ich mache das schon seit ganz am Anfang. Ich versuche damit Spannung aufzubauen – und natürlich auch Wertschätzung der Kick Drum gegenüber zu erzeugen. Weil wenn die Kick Drum nach einer Pause zurückkommt… Heeeell yeaaah!

 

 

Text Remo Bitzi 

Fotografie Don Chow & Derrick May