07.02.2018 von Marc Schwegler

Rückblick CTM-Festival: Ambivalenz des Aufruhrs

Unter dem Titel «Turmoil» widmete sich vergangene Woche das CTM-Festival in Berlin mit seiner 19. Ausgabe herausfordernder Musik in turbulenten und aufrührerischen Zeiten. Im dichten Programm fand zweikommasieben-Redaktor Marc Schwegler in einigen Momenten die vom Festival gestellte Forderung nach unbequemer Musik für unbequeme Zeiten deutlich eingelöst – hier entsprechend unser Festival-Review.

Eine Welt in Aufregung, im Umbruch und Umsturz – politische Polarisierung, Populismus und autoritäres Gedankengut, Klimaerwärmung, technologische und mediale Revolution und Eskalation: An Herausforderungen mangelt es derzeit global tatsächlich nicht. Unter dem Titel «Turmoil» (Aufruhr) forderte das CTM Festival in Berlin vergangene Woche dementsprechend unbequeme Musik für eine unbequeme Zeit. Das kaum zu bewältigende, zehntätige Gesamtpensum von Konzerten, Performances, Klubnächten, Vorträgen und Workshops lieferte eine Fülle unterschiedlicher künstlerischer Positionen, Zugänge und Klänge – von denen hier im Rückblick dementsprechend auch nur einige präsentiert werden.

Der DJ und Autor Jace Clayton (alias DJ/Rupture) hatte sich im Eröffnungskonzert vom Samstag bereits mit dem Vermächtnis des afroamerikanischen Komponisten Julius Eastman auseinandergesetzt, als er tags darauf im Kunstquartier Bethanien seinen Vortrag hielt. Hier fand er angesichts des vom Festivalthema evozierten Aufruhrs durchaus auch Vorzüge an diesem Zustand: Eine sozial, politisch und technologisch turbulente Gegenwart, so argumentierte Clayton, verweise auch auf die Unplanbarkeit und Offenheit von Zukunft. So stellen sich gerade auch in Bezug auf (Musik-)technologie und deren lokale, soziokulturell spezifische Verwendung immer wieder Effekte ein, die vorher kaum abzusehen sind. Die inzwischen omnipräsente Software für automatische Tonhöhenkorrektur Auto-Tune stellte Clayton entsprechend als ambivalente Technologie vor, an der sich auch spezifische kulturelle, historische und soziale Konzepte spiegeln, brechen und befragen lassen – gerade im Umgang mit der menschlichen Stimme. Wenn Billy Joel 2007 am Superbowl hörbar von Auto-Tune gestützt die Nationalhymne singt, dann wird anhand von den darauf folgenden hitzigen Diskussionen auch deutlich, wie fragil und fraglich Kollektivitäten im Zeitalter ihrer technischen (Re-)produzierbarkeit geworden sind. Das mutet in der Rückblende tatsächlich an wie eine Vorschau auf das heutige Amerika, in dem man sich auf der gesamten Breite des politischen Spektrums der Gemachtheit der nationalen Einheit umso mehr bewusst geworden zu sein scheint, weil die sie etablierenden Institutionen in Frage gestellt werden.

Der introspektive, reduzierte Americana-Country von Scott Kelly – seines Zeichens Gründer der im entsprechenden Kanon zentralen Metal-Band Neurosis und an diesem Abend eigentlich nur Vorprogramm für die belgische Post-Metal-Formation Amenra – schien dagegen am Sonntagabend im Festsaal Kreuzberg eine amerikanische Gegentradition von Gemeinschaftsbildung aufzurufen. Unter Begleitung von John Judkins präsentierte einem Kelly da die biografisch und persönlich gefärbte, individuelle Erfahrung des Leidens – ein Leid, wie man es eben selbst kennt oder zumindest empathisch mitzufühlen weiss. Ein seltsam versöhnlicher Moment war dieser Auftritt, bei dem man angesichts dieses bärtigen Kerls wieder Sympathie zu finden vermochte für ein weisses Amerika, das den gegenwärtigen Aufruhr mit Trump mitheraufbeschworen und sich damit einmal mehr dem Sündenfall preisgegeben hat. Es scheint immer noch eine seltsame Qualität in der Hyperemotionalität einer Musik zu liegen, die das Herz schon immer auf der Zunge getragen hat und die Geschichten, die sie erzählt, zumindest in ihren besten Momenten nie generisch, sondern spezifisch ausgestaltet. Es ist das Persönliche, Spezifische dieser Stimme, die dem Ganzen eine Aura von Authentizität verleiht – auch wenn einem das angesichts der anderen am Festival präsentierten Positionen eventuell reaktionär erscheinen mag.

Pan Daijing und Rashad Becker legten etwa bei ihrer Performance im Rahmen der Retrospektive zum Werk des Choreographen und Komponisten Ernest Berk nahe, dass sich in der kompletten Dezentrierung, Fragmentierung und Infragestellung von Stimme einiges an ästhetischem Potential findet. In streng-militantes Schwarz-Weiss gekleidet und einander bis zur Haartracht optisch angepasst, setzten die beiden nicht nur einen dezidierten Gegenpunkt zu den mit einem ekstatischen, nackten Tanzreigen zu Technobeats des japanischen Duos Group A endenden Interpretationen von Berks Schaffen. Auf die Spitze getrieben mit einem ironischen kleinen Knicks vor Beginn fanden Becker und Pan Daijing auch einen gewitzten und ironischen Umgang mit Konventionen der Hochkultur, in deren Gefilde sich das Festival nicht erst dank der vom Berliner Kultursenator Klaus Lederer angekündigten Subventionserhöhung ohne falsche Scheu ebenso sehr verortet wie in den verschiedenen Spielarten der populäreren elektronischen Musik. So oder so, die Arbeit am Archiv, das Überführen von historisch übersehenen oder vergessenen Gegenentwürfen von Klang und Musik ist dem Festival auf jeden Fall hoch anzurechnen, insbesondere weil die diesjährige Ernest Berk Retrospektive nicht die erste solche Unternehmung markiert. Die Stärke am Engführen von Vergangenem und Gegenwärtigen liegt gerade darin, dass man Berks Konzepten und Kompositionen trotz der tollen choreographischen Arbeit von Christoph Winkler, sowie den Tänzerinnen und Musiker ihre Zeitlichkeit auch anmerkt.

Allgemein fand das Festival in den Momenten zu seiner wirklichen Grösse, in denen ausserordentlich klug getroffene, kuratorische Setzungen etablierte Ordnungen von Raum und Zeit in Aufruhr zu versetzen vermochten – in Augenblicken, wo sich Historisches und Gegenwärtiges, Nahes und Fernes vielfältig überkreuzten, überlagerten und begegneten. Etwa in der phänomenalen Performance der Cellistin Okkyung Lee im Berghain, wo sich eine klassische Poesie der Virtuosität in die immer noch eindrückliche, physische Materialität von Klang auf der ikonischen Anlage im Berghain verlagerte. Jessica Ekomane, die am Dienstagabend am gleichen Ort performte, schaffte es mit einer hochpräzisen, minimalistischen Performance eine Klangumgebung zu schaffen, in der einem nicht mehr klar war, was sich im eigenen Kopf abspielte und was tatsächlich aus den Lautsprechern klang. In einer sich spiralartig vollziehenden Bewegung drangen Innen und Aussen ineinander ein und überlagerten sich – das klare Highlight an diesem unter dem Motto «Persist» laufenden Abend, an dem die um einiges bekanntere Klein eine eher ernüchternde Vorstellung bot.

Ein eindrückliches Set lieferte dagegen Jana Rush Donnerstagnacht in der Panoramabar: Im Nihilismus der Stakkato-Beats ihres Chicago Footwork feuerte sie gleichzeitig beinahe im Sekundentakt Referenzfetzen auf die schwarze Musiktradition der USA ab. Es ist erstaunlich, wie sehr einem diese Musik immer noch fremdartig anmutet, obwohl man ihr seit Jahren immer wieder begegnet und die letztlich auch nur eine erneute Reinkarnation eines Sounds markiert, mit dem Chicago schon seit Jahrzehnten die Tanzflächen dieser Welt beliefert. In ihr begegnen sich aber auch zwei Momente eines innerstädtischen, schwarzen Amerikas, das trotz aller medialen und politischen Aufmerksamkeit wohl für viele der eigenen, weissen Landsleute immer noch Terra Incognita bleibt.  David Simon hat diese Welt wohl mit The Corner und The Wire anhand von Baltimore eindrücklich zuerst in Text und dann in Fernsehbilder übersetzt: Die rassistisch induzierte Hoffnungs- und Trostlosigkeit der Strasse und ihrer Corners, aber auch die lebendigen und gemeinschaftlichen Formen von Musik und Kultur. Im Sound von Chicago Juke sind beide Momente zur endgültigen, hypernervösen Entropie verdichtet.

Ebenso überwältigt und im besten Sinne überfordert zurück hinterliess einem auch der sensationelle Auftritt von Bampa Pana und MC Makaveli – zwei Exponenten einer Szene in Dar Es Salaam, die im letzten Jahr mit der Compilation Sounds of Sisso (Nyege Nyege Tapes) beleuchtet worden ist. An einer der wohl weissesten und europäischsten Spielart von hartem Techno – Gabber – gewidmeten Nacht im Berghain, die bereits an anderer Stelle durchaus zu Recht euphorisch gelobt wurde, markierte dieses Duo einen gewitzt gesetzten Zerrspiegel, wo sich Happy Hardcore, Breakcore und andere Spielarten der hiesigen Undergroundmusik an den Rhythmen des Südens zu messen hatten. Überlagert von überschnellen Sprechgesang mündete das Ganze in eine frenetische, T-Shirt-schwingende Feier von Körperlichkeit, die einem teilweise sprachlos machte oder mit breitem Grinsen an der Intensität und Komplexität dieser unerhörten Musik teilhaben liess.

Dass die Begegnung verschiedener Formen und Sparten auch zu scheitern vermag, verriet dagegen die von CTM und Transmediale gemeinsam produzierte und vor ausverkauften Rängen im Auditorium des HKW aufgeführte neue Arbeit «Plague» von James Ferraro. Hatte dieser mit dem 2011 veröffentlichten Album Far Side Virtual sowie den darauf folgenden Mixtapes es noch geschafft, den Siegeszug des digitalen Konsumkapitalismus kongenial in hypermoderne, zynisch-banalen Sounds zu giessen, so fehlte dem hier Präsentierten jeglicher Biss. Anhand eines fragmentarischen Narrativs um eine wahnsinnig gewordene künstliche Intelligenz liess Ferraro in klassisch-theatralen drei Akten vor einer als Triptychon organisierten Leinwand einen augenscheinlich ebenfalls durchgedrehten Steve-Jobs-ähnlichen Charakter sowie einen Chor auftreten. Derweil liefen die überlangen Sequenzen aus animierten Videobilder von Nate Boyce, die unendliche digitale Weiten sowie ein rasendes, netzwerk-artiges Gebilde zeigten. Ein verzerrtes Voice-Over liess die A.I. als techno-faschistoide Gottheit die Menschlichkeit per se zum unnützen Fleischklumpen degradieren.

Dieses Gesamtkunstwerk wirkte nicht nur in Bezug auf die Repräsentation und das künstlerische Potential von A.I. altbacken, sondern noch dazu auch in Bezug auf den Sound. Die Kompositionen von Ferraro, die vor ein paar Jahren noch in ihrer komplizenartigen Zeitgenossenschaft so sehr als Gegenwartsbefund ernst genommen werden konnten, wurden im Zusammenhang mit der Staatstheater-artigen Aufführung endgültig zum Kitsch degradiert. Das euphorische Lob der Oberflächlichkeit, das Far Side Virtual so ausgezeichnet hatte, verfiel so zum Klischee und hinterliess das zahlreich erschienene Publikum – das noch dazu bei einem scheinbar ewig dauernden Einlass seine Geduld bereits strapazieren lassen musste – deutlich ratlos und sicht- sowie hörbar enttäuscht zurück. Es handelte sich um einen der ganz wenigen Momente an diesem einmal mehr überzeugenden Festival – das übrigens auch mit seiner Ausstellung trotz den nicht optimalen Räumlichkeiten im Kunstquartier Bethanien derjenigen der Transmediale schon längst das Wasser zu reichen vermag – wo es seinem eigenen Motto nicht ganz gerecht zu werden schien. Dem eskapistischen Fetischismus von Ferraros Dystopie zum Trotz dominierte nämlich im Rest des Programms die aufrichtige Auseinandersetzung mit einer ambivalenten Gegenwart – was gerade im Zeitalter neuer Populismen unverzichtbar bleibt.