27.12.2013

Madteo — Rose Dub Etc

In einer Wohnung am Goldbrunnenplatz in Zürich versammelt sich an einem grauen Samstagnachmittag Mitte April 2013 ein illustrer Haufen an Musikliebhabern. Grund : Der Zürcher Klub Zukunft hat das zweikommasieben Magazin eingeladen, einen Abend bei ihnen im Kreis Cheib zu gestalten. Dafür wurden neben den Leuten aus den eigenen Reihen – sprich : Marc D’Arrigo, Pasquale C. Peak, Guy Joshua, Leisure Options, El Tigre Sound und Martin Meier – auch der New Yorker DJ und Produzent Matteo Ruzzon aufgeboten. Dieser hat in den Monaten zuvor unter seinem Pseudonym Madteo mit Releases auf Hinge Fingers, Sähkö Recordings, Workshop, Morhpine Records, Meakusma und The Trilogy Tapes auf sich aufmerksam gemacht. Wie üblich werden die Stunden vor solchen Veranstaltungen genutzt um gemeinsam zu kochen und zu essen und um sich mit den eingeladenen Künstlern über ihr Schaffen, Gott und die Welt sowie die Szene da und dort zu unterhalten. Der gesprächige Matteo erwies sich indes als sehr interessanten aber auch skurrilen Gesprächspartner.

Folgendes wurde mit Marc D’Arrigo, Kaj Lehmann, der Matteo übrigens auch fotografierte, und Remo Bitzi besprochen während der Rest der Crew in der Küche Schweinebraten und Spargeln zubereitete beziehungsweise auf dem Balkon und im Wohnzimmer anderes zu bereden hatte.

 

Comebacks

Matteo Ruzzon Kennt ihr diesen Song ? [ Singt ] « We can fix it if it’s broken… » Der ist von DJ Sneak !

Marc D’Arrigo Ich erinnere mich…

MR Das klang damals nach einem Hit ! [ Singt erneut ] « If it’s broken we can fix it… » Der war toll ! Erinnert ihr euch an die Classic Music Company ? Das war das Label von Derrick Carter und Luke Solomon. Von den späten Neunzigern bis Anfang der Nuller Jahre war das das beste House-Label ! Da wurden auch Isolées Klassiker veröffentlicht. Unter anderem Beau Mon Plage…

RB Ah, klar !

MR Da kamen natürlich auch viele Tunes von Derrick Carter raus… und auch Veröffentlichungen von Rob Mello ! Rob Mello ist eine sehr interessante Person. Er konnte ein paar tolle Erfolge feiern, ist aber immer « underground » geblieben. Man wusste auch nie so genau, wer Rob Mello ist. Wahrscheinlich ist er ein Italiener, der in London lebt. Übrigens hat er mit Matthew Herbert Sound-tracks gemacht. Das war zu dem Zeitpunkt als deren beider Karrieren auf der Kippe standen – also just bevor sie sich als Künstler etablierten… Ich recherchiere ziemlich viel online, darum weiss ich solche Sachen. Das mache ich jeweils um zu verstehen, woher diese Leute kommen. Weil ich bin ein grosser Fan von Herbert, aber eben auch von Rob Mello. Dieser hat ein paar tolle Tracks gemacht. Einer heisst Bump Me All Night… Ein anderer Fantasize. Letzterer ist ein Track, bei dem er White Horse verwendet. Von dieser dänischen Gruppe… Diese dänische Gruppe namens… Errrrrm… C’mon, das ist ein Klassiker ! [ Überlegt krampfhaft, während Marc den Refrain singt « Don’t ride a white horse… », dann plötzlich ] Laid Back ! …und auf der anderen Seite ist… Errm… [ Singt ] « Sunshine, Sunshine Reggae… » Eine tolle Single ! Auf der einen Seite ist dieser langsame Reggae-Pop-Song, auf der anderen dann dieser verrückte Leftfield-Dance-Track. Ich habe diese Platte im vergangenen Jahr auf einem Flohmarkt gekauft. Und dann, kurz darauf, kommen Laid Back zurück… mit einem tollen Track ! Und trotzdem interessiert sich keiner dafür. Nur weil sie alt sind. Das ist… Das ist… Das ist fucked up !

MDA Auf der anderen Seite gibt es viele ältere Künstler, eigentlich schon im Ruhestand, die zurückkommen. Die machen dann aber nicht da weiter, wo sie aufgehört haben, sondern kopieren leider zeitgenössische oder angesagte Sachen…

MR Ihr kennt Kenny Larkin ? Er hat tolle Sachen gemacht. Und ich habe grossen Respekt vor ihm. Nun startete er aber vor allem wegen Cadenza durch… Cadenza ist aus der Schweiz, richtig ?

RB Ja, aus der Westschweiz.

MR Genau. Luciano steckt dahinter… Er lancierte Cadenza als Booking-
agentur. Und daraus wurde dann ein Brand. Cadenza wurde für Luciano zu einem Multiplikator – etwa so wie Cocoon für Sven Väth. Mittlerweile gibt es ja Cocoon das Label, Cocoon die Agentur, Cocoon den Club, Cocoon den Yachtverleih, [ Gelächter ] Cocoon das Süssgetränk, Cocoon das Hotel,… Der Punkt ist : Diese Agenturen sind gute Marketing-Tools. Sie sind geschickte Business-Moves um zu expandieren… Zurück zu Larkin : Durch das ständige Touren mit Cadenza konnte er auch eine Art Comeback feiern. Ich habe ihn vor rund zehn Jahren in New York auflegen gehört. Es war quasi keiner da. Auch andere Techno-Pioniere aus Detroit steckten in solchen Situationen. Aber in den letzten fünf Jahren hat sich die Situation verändert. Das ist sehr interessant…

 

Klubkultur in Amerika

RB Wie sieht denn die Situation für dich als DJ und Produzent in Amerika aus ?

MR Scheisse ! Gerade bin ich während vier Monaten in Europa und kriege viele Bookings – aber nur wegen meinen Releases. Ansonsten würde sich keiner für mich interessieren – auch wenn ich auf zehn Decks gleichzeitig Disco-Platten spielen würde ! Wegen meinen Veröffentlichungen und dem ganzen Hype – der fast ausschliesslich aus Europa kommt – wollen mich nun auch einige New Yorker Promoter buchen. Aber auch dieses Interesse funktioniert nur bedingt : Bucht mich der eine Klub, bin ich für den Rest der Klubs der Stadt während einigen Monaten uninteressant. Denn ein Promoter will ja nicht das buchen, was seine Konkurrenz vor kurzem schon präsentiert hat. Das ist für mich als Künstler scheisse ! Und das passiert überall; es ist nicht nur in New York so. Auf der anderen Seite ist es verständlich…

RB Ja und nein. Bei uns ist es so, dass oft die selben Jungs spielen – mehr oder weniger – plus ein oder zwei Gäste. Es ist quasi eine Familienangelegenheit.

MR Klar. Genau darum geht es. Vor ungefähr 40 Jahren kam der Job des DJs auf – in der Disco-Szene. Als Disco entstand, gelangten damit auch einige Disco-DJs zu Ruhm. Damals war es so, dass der bekannteste Typ jeweils der Resident war. Er baute den Klub quasi auf. Es gibt viele Beispiele : Larry Levan und die Paradise Garage, Frankie Knuckles und das Warehouse, Ron Hardy und die Music Box. Diese Orte wurden dann auch legendäre Discos oder Klubs – eben wegen den DJs. Die Leute kamen da hin um die Resident-DJs zu sehen. Diese fühlten sich entsprechend wohl und konnten experimentieren. Damals war es auch ok, wenn der DJ einen Fehler machte – die Leute mochten das sogar. Heute muss man sich vor Buh-Rufen aus dem Publikum fürchten… Dazu kommt : Als DJ ist man heute konstant unterwegs, man kommt im Klub an, muss Ein-Stunden-Sets spielen – mitten im Abend – wie zur Hölle soll man da ein Set aufbauen ? … Ich persönlich war aber nie ein traditioneller Klub-DJ. Ich spielte oft in einem Restaurant… Habt ihr dieses Interview von mir auf Made Like A Tree gelesen ? Es ist sehr lang… Es ist so lang, weil es das erste Mal war, dass mir jemand diese Fragen gestellt hatte. Und diese waren sehr wage. À la : « Wie hast du mit dem Musikmachen angefangen ? » Da musste ich weit ausholen.

RB Ich las das Interview vor einer Weile. Und es hat mich sehr berührt.

MR Wie auch immer, darin erzähle ich, dass mein DJ-Leben sich zu grossen Teilen in Restaurants abgespielt hatte. Das heisst : Kein richtiges Publikum, scheiss Soundsystem, EUR 80 Gage um während sechs Stunden Hintergrundmusik zu spielen, ausdrücklich keine Klubmusik – aber das ist ja sowieso ein relativer Begriff. Was für den einen Klubmusik ist, ist für jemand anderes super langweilige Musik [ lacht ] – dabei geht es natürlich um Semantik… Auf jeden Fall habe ich in diesem Restaurant gelernt, was Musik ist. Und wie man seine eigenen Interessen in solch einem Kontext unterkriegen kann. Ich konnte Sachen spielen, die wohl nicht als Restaurant-Musik durchgehen… Wie auch immer, es war ein weiter Weg von diesen langen nicht-Klub-orientierten Sets zu den Sets, die ich nun in europäischen Klubs spiele.

RB Inwiefern beeinflusst dich diese Erfahrung ?

MR Ich sehe die Musikszene aus einer anderen Perspektive als die meisten anderen. Neulich habe ich beispielsweise in Berlin gespielt. Das war komisch. Weil ich spielte nicht in einem Technoklub, was für mich ironisch ist : Ich bin in Berlin, dem Techno-Mekka, und spiele im ehemaligen Hauptsitz eines Jagdvereins. Der Klub heisst Loftus Hall – ein cooler Ort. Offensichtlich ist das aber kein richtiger Klub, die Räume sind beispielsweise mit Holz getäfert. Auch deren Sound war nicht der beste, aber die Atmosphäre war toll…

MDA Das überrascht mich nicht. Das mit dem Sound ist oft so in Berlin.

MR Dann haben also nur die grossen Klubs gute Soundsystems ?

RB Ja. In Berlin ist es ja auch relativ einfach einen Klub zu starten : Die Mieten sind günstig, die Leute partyhungrig. Entsprechend ist der Klub verhältnismässig rasch aus dem Boden gestampft, worunter dann oft das PA leidet.

MDA Die Leute da haben kein Geld… Darum gehen ja viele nach Berlin. Wo sonst kann man für EUR 3 auswärts essen ? Die Leute leben von der Hand in den Mund.

RB Auswärts zu essen ist manchmal günstiger als etwas zu Hause zu kochen… Ist es nicht ähnlich in New York ?

MR Ja…

RB Hier ist es krass… Darum essen wir jetzt auch nicht in einem Restaurant. [ Gelächter ]

Matteo Ruzzon aka Madteo

Von Skandinavischer Musik zu Hip-Hop

MR Ich war neulich in Genf. Da habe ich festgestellt, dass alles sehr teuer ist. Skandinavien ist diesbezüglich ähnlich. Mein Freund Sotofett ist in Norwegen aufgewachsen. Er hat mir davon erzählt… Er wuchs in Moss auf, das ist eine Industriestadt an der Ostküste von Norwegen.

RB Wohnt er nun auch in New York ?

MR Nein, er war in letzter Zeit einfach oft zu Besuch da. Freunde von ihm wohnen in New York… Wir trafen uns dann irgendwann einmal. Mittlerweile sind wir gute Freunde geworden. Und Kollaborateure… Er ist ein lustiger Typ, der auch ein grosses Talent hat. Ein sehr inspirierender Freund… Ich habe das Gefühl, er wird… gross ! Weil seine Musik ist… [ sucht nach dem geeigneten Wort ]

RB …zugänglich ?

MR Ja, sehr zugänglich ! Es ist sein eigener musikalischer Hybrid… [ sucht wieder nach einem geeigneten Wort ]

RB …und gut produziert.

RB Ein bisschen wie DJ Sprinkles.

MR Genau, ein bisschen wie DJ Sprinkles. Was ich an Sotofett mag – und was auch zeigt, dass er in Skandinaven aufwuchs – ist sein Einsatz von Perkussion. Viele skandinavische Produktionen, egal welches Genres, haben starke perkussive Elemente. Diese Tradition reicht bis in die Jazzjahre zurück. Es gibt viele Jazzmusiker, die in den Sechzigern oder Siebzigern in Skandinavien lebten. Leute wie Sabu, das ist der Typ der Afro Temple gemacht hat, oder Quincy Jones, der ja einen schwedischen Sohn hat.

RB [ Überrascht ] Wie bitte ?

MR Ja, Quincy Jones III. Quincy hat viele Kinder in die Welt gesetzt – mit vielen schönen Frauen. [ Gelächter ] … Ich wurde neulich gebeten, für einen Blog zehn YouTube-Videos auszuwählen und zu kommentieren. Einer der Clips stammt aus einer Doku-Reihe von Quincy Jones III. Die Reihe handelt von Hip-Hop-Beefs; und sie heisst entsprechend Beef. Ich sah die ersten zwei Teile der Reihe. Sie sind sehr informativ und sehr gut gemacht; mit kleinem Budget, glaube ich… Ihr wisst ja : Die Geschichte des Hip-Hops basiert auf Beefs. Es ging immer um Competition und Rivalitäten. Und das wiederum kommt von den jamaikanischen Soundsystems. Da ging es immer drum, wer das grössere Soundsystem hat. Und davon abgeleitet, wer mehr Leute zusammenbringen kann. Beefs, die auf dieser Rivalität basieren, sind dann auch eine der faszinierendsten Sachen im Hip-Hop. Natürlich passierten traurige Dinge deswegen – diese dummen Beefs verursachten auch Morde. Es gibt viele Beispiele… Ich war ein grosser Hip-Hop-Fan in den Neunzigern. Zu Beginn der Nuller Jahre verlor ich dann das Interesse. Ich glaube aber, Hip-Hop kommt nun wieder zurück – aber in einer anderen Form… Wie auch immer, ich schaue mir oft dieses Programm auf YouTube namens The Break-fast Club an; das war in letzter Zeit die Hauptquelle meiner Recherchen betreffend Hip-Hop. The Breakfast Club ist eine New Yorker Radioshow, die von Leuten gemacht wird, die bei Hub 97 dabei waren, eine Radiostation mit der auch Funkmaster Flash und DJ Envy verbunden waren. Letzterer startete dann auch diese Show. Dabei wird keine Musik gespielt; es werden lediglich Interviews ausgestrahlt. Das ist toll um die Personen und deren Charaktere und Eigenheiten kennenzulernen… Leute wie Chief Keef aus Chicago, der Heroin verkaufte und Waffen auf sich trug. Er wurde erwischt und stand unter Hausarrest. Während dieser Zeit produzierte er dann Tracks, die er auf YouTube hochlud. Und Jermaine Dupri, einer der mächtigsten Typen im Biz, hörte einer der Tracks und offerierte Keef einen Sechs-Millionen-Doller-Vertrag. Und der Typ hat noch nie in seinem Leben eine Vinyl-Platte gesehen. Er weiss vermutlich nicht einmal, was das ist… [ Kurz Pause ] Worum geht es nochmals ?

RB Du hast von Hip-Hop erzählt, davor von Beef, davor von Quincey Jones III und davor von Skandinavien und deren Perkussion… Weiter zurück kann ich mich nicht erinnern.

Alle [ lachen ]

 

Politik

RB Neues Thema ! Du bist in Padova aufgewachsen…

MR Richtig. Obwohl es sich mittlerweile anfühlt, als ob ich in New York aufgewachsen wäre. Ich bin mit 18 da hingezogen. Bald bin ich 38. Ich lebe nun seit 20 Jahren in New York, seit 22 Jahren in den Staaten.

RB Du hast also mehr Zeit in den Staaten verbracht als in Padova.

MR Ja, seit zwei Jahren ist dem so. Und es fühlt sich komisch an. Die Zeit vergeht so schnell. Ich bin ein Tag da… dann eine Woche… dann einen Monat… plötzlich sind es 20 Jahre…

Kaj Lehmann Weisst du noch, was du an 9/11 gemacht hast ?

MR Seltsamerweise war ich da in Padova im Urlaub. Damals war ich noch verheiratet und an dem Tag sollte meine Frau nachreisen. Sie hatte einen Flug an 9/11. Ich war schon eine oder zwei Wochen früher abgereist. An dem Tag war ich auf den Hügeln in der Umgebung. Ich besuchte einen Freund und wir gingen dann irgendwann in eine Trattoria um die Toilette zu benutzen. Und da sassen alle alten Männer des Dorfes vor dem Fernseher und schauten sich die Nachrichten an. Auf dem Bildschirm sah man die Twin Towers und Rauch. Ich fragte mich, was zur Hölle da wohl passierte. Auf dem Rückweg erreichte mich dann einen Anruf meiner Schwester und sie sagte : « Hast du gesehen, was da passiert ? » Und ich : « Jaja. » Und sie : « Sie sind eingestürzt… » Und ich : « Was ist eingestürzt, was ? » Und sie : « Die Twin Towers sind eingestürzt, die Twin Towers. » Und ich : « Wie meinst du das ? » Weil dass die Twin Towers einstürzen könnten, war ausserhalb meiner Vorstellungskraft… Das war dann auch der Zeitpunkt, ab dem ich vermehrt Bücher und Texte über Politik las. Mittlerweile ist es für mich schwierig zu verstehen, dass Familienmitglieder – konkret : meine Eltern – die offizielle Geschichte glauben. Die wollen an nichts anderes glauben. Es ist verrückt, weil meine Eltern sind intelligente Leute, aber sie glauben die offizielle Geschichte. Wieso auch immer… Angst ist sicher ein Punkt…

RB Genau, weil sonst kommt das gesamte Weltbild ins wanken.

MR Die Frage ist : Wovor fürchtet man sich ?

RB Ja, entweder vor den Lügen der Politiker und Wirtschaftsfunktionäre oder davor, dass eben nicht alles stimmt und die vorgegaukelte Realität nicht die einzige ist.

MR Auf jeden Fall war das eine verrückte Zeit. Meiner Ex-Frau ist nichts passiert und sie konnte ein paar Tage später fliegen…

KL Ich erinnere mich, dass ich an besagtem Tag von der Schule nach Hause kam, alle waren oben vor dem Fernseher. Meine Mutter weinte. Ich konnte nicht verstehen, worum es geht…

RB Bei mir war es so : Ich kam ebenfalls von der Schule nach Hause und wollte The Simpsons schauen. Ich machte also den Fernseher an und da kamen Nachrichten. Ich wechselte den Kanal : Mehr Nachrichten. Ich wechselte den Kanal : Überall Nachrichten ! Und ich dachte nur so : « Was zur Hölle geht hier vor ! ? Ich will doch The Simpsons sehen ! »

MR [ lacht ]

KL Es ist verrückt : Ich erinnere mich besser an diesen Tag, als an all meine Geburtstage…

MR Man, absolut. …1999 zog ich in eine neue Wohnung, in der ich übrigens noch immer lebe. Zu der Zeit las ich dieses Buch, das vom Anwalt von Timothy McVeigh, einer der Oklahoma Bombers von 1995, geschrieben wurde. Das war vermutlich das erste islamistische Terrorattentat in Amerika. Es gab ja davor schon Attentate – das erste fand zu Beginn des 20. Jahrhunderts an der Wall Street statt und wurde von Anarchisten verübt; unter anderem von einem Italoamerikaner. Wie auch immer, es ist keine einfache Aufgabe, jemanden wie McVeigh zu verteidigen. Er war offensichtlich schuldig, einen Massenmord begannen zu haben. Viele Anwälte haben den Fall abgelehnt, weil man ihn nicht gewinnen konnte. Es ging also eher darum so viel Wahrheit betreffend dieses Falles wie möglich zu finden. Stephen Jones, der Anwalt, der den Fall schlussendlich übernahm, war selber aus Oklahoma und hatte einen guten Ruf. Aber dieser Auftrag ruinierte seine Karriere. Es gab nämlich viele Leute, die den Fall vertuschen wollten. Und das waren die selben Leute, die offiziell beauftragt waren, die Wahrheit zu enthüllen. Entsprechend der Titel des Buches : Others Unknown. Solche Vorfälle gab es dann in der amerikanischen Geschichte immer wieder. In diesem Buch las ich beispielsweise von kommerziellen Flugzeugen, die als Waffen benutzt werden können. Nach 9/11 sagten all die CIA-Leute, all die Staats-Leute, all die Militär-Leute, sie hätten nicht gewusst, dass so etwas passieren könnte. Das stimmt nicht. Sie waren sich sehr wohl bewusst, dass es solche Pläne schon seit Dekaden gibt…

 

Wörter

RB Ich wollte mit dir auch noch über deinen Umgang mit Wörtern sprechen. Ich denke da an deine Tracktitel, ich denke da an dein Geblabber über DJ Sotofetts «Track There’s Gotta Be A Way», ich denke aber auch an unser Gespräch… Passiert dieser Umgang bewusst ?

MR Klar. Auf jeden Fall. Ein Beispiel : Gerade eben habe ich meinem Freund Andreas von Acido Records auf Facebook geschrieben. Und zwar betreffend einem meiner Tracks, der auf der Compilation Soundtracks For No Film Vol. 1 bei Acido erschien. Der Track heisst Science Friction. Das ist ein Wortspiel und bezieht sich auf das Genre Science Fiction, von dem ich nie ein Fan war. Entsprechend steckt für mich viel Bedeutung im Wort « Friction ». Die Idee hinter Science Friction ist – und das ist der Bezug zu den Ausführungen vorhin – dass ich überzeugt bin, dass es da so etwas wie eine Verschwörung in der wissenschaftlichen Welt gibt. Vieles hängt damit zusammen : 9/11 – all der Scheiss hat damit zu tun. Es besteht eine Friktion zwischen den verschiedenen Auffassungen von Realität. Das geht in die Erkenntnistheorie hinein – also wie man eine Realität verstehen will oder kann. Die Wissenschaft ist seit dem 17. Jahrhundert schwer beschädigt. Denn deren Erkenntnisse stimmen schlussendlich immer mit jener Realität überein, die am einfachsten zu ertragen ist. Und das unterscheidet sich von meinem Verständnis des ursprünglichen Wissenschaftlers : Eines Tüftlers, der hypothetische Situationen erzeugt. Die Wissenschaftler müssen in meinen Augen den Bereich des logischen Denkens verlassen, um in einen Zustand zu gelangen, der schon fast mystisch ist. Da findet man dann wahre Inspiration für relevante Fragen. Und eben das will ich mit « Friction » aussagen. Fun Fact : Ein Online-Plattenladen hat den Titel falsch geschrieben und zwar : Science Fiction. [ Remo lacht ] Und das hasse ich verdammt nochmals. Weil darum ging es ja nicht. Ich schrieb also Andreas und sagte, ich wäre so verdammt wütend. Weil viele grosse Läden copy-pasten dann diesen Fehler. Und der Titel ist eben mehr als nur ein Titel. Ich könnte natürlich all meine Tracks «Untitled» nennen. Aber das wäre doch arrogant. Man kann das natürlich für einen Release machen, aber nicht die ganze Zeit. Weil wenn man viele Sachen veröffentlicht, sollte man sich schon auch Gedanken zu den Titeln machen… Titel sind auch kreative Arbeit – ob sie nun etwas mit der Atmosphäre des Tracks oder was auch immer zu tun haben, ist egal, es geht nur um die Gedanken die in einem Titel stecken.

RB Genau. Titel sind ja schon fast eine eigene Disziplin.

MR Absolut ! Ich persönlich habe eine lange Liste mit Titeln auf Reserve. Es gibt wirklich viele. Meistens basieren sie auf Wortspielen. So wie Science Friction. Ich glaube, das hat mit meinem Hip-Hop-Hintergrund zu tun.

RB Inwiefern ?

MR Hip-Hop ist eine unglaublich kreative Disziplin. Es ist eine der letzten wirklich originellen Kunstformen in der Musik – oder besser : war. Denn heute könnten alle Hip-Hop-Songs «Untitled» heissen; oder zumindest «Jay-Z’s Latest Song». [ Lacht ] Weil dieser Teil von Hip-Hop, diese Originalität, ist leider verloren gegangen…

RB Benutzt du eigentlich Samples aus Filmen ?

MR Was meinst du genau ?

RB Dein Track auf der Workshop-Split-EP…

MR Ah, das Sample kennst du nicht ? Das ist aus dem Film Citizen Kane – dieser Klassiker von Orson Wells. Ich sah den zum ersten Mal als ich schon über dreissig war. Zu der Zeit habe ich viele Hollywood-Klassiker aufgearbeitet. Und von diesem Film war ich besonders beeindruckt. Das Sample stammt aus einer Szene namens Rose Bud. Diese ist am Ende des Films zu sehen. Folgendes passiert : Kane wurde bereits von allen verlassen und steht nun in seiner grossen Villa mir seiner jungen Frau, die ihn auch endlich verlassen will. Und er ist wütend und bittet sie, ihn nicht zu verlassen. Dann sagt er : « From now on everything will be just exactely the way you wanted. » [ Amüsiert ] Aber offensichtlich ist es zu spät. Das lustige ist, dass er sie in dieser Szene « Rose Bud » nennt – und das ist ziemlich mysteriös. Es schient ein Kosename zu sein, aber der kommt davor nie vor; nur in dieser Szene. Also wurde das zu einem klassischen Zitat… Ich habe dann das Zitat mit einer heavy Bassline umgarnt. So hätte aus « Rose Bud » eben Rose Dub werden sollen – ein weiteres Wortspiel. Aber weil diese Workshop-Leute keine Titel mögen, musste ich den Track schlussendlich doch «Untitled» nennen…

Guy Schwegler aka Guy Joshua [ ruft aus der Küche ] Essen ist fertig. [ Das Gespräch wird abgebrochen um sich dem Schweinebraten und den Spargeln und später anderen Gesprächspartnern zu widmen. ]