12.11.2016 von Samuel Davison

Jesse Osborne-Lanthier – Logarithmen wie Labyrinthe

Während verschiedenen Gesprächen bei einem halben Dutzend Billardspielen in einer Neuköllner Biker Bar, sieben Packungen Instant Ramen Nudeln in einer Wohnung im Prenzlauer Berg und bei etwa hundert kleinen spanischen Bieren an der Where to Now? Labelnacht in Berlin haben Jesse Osborne-Lanthier und Samuel Davison die Verbindungen von Udon Nudeln und Netzwerkkabeln, Kirchen und Raves sowie ihre unterschiedlichen Perspektiven auf Chaos besprochen.

Samuel Davison Dein Set in der Kantine am Berghain für die Where To Now? Labelnacht war – und versteh das jetzt nicht falsch – sehr verwirrend. Es war wie ein Labyrinth. Genau diese Wirkung möchtest du ja beim Publikum erreichen, wenn man dem Text zu deinem Tape From A Flawed Apex Which Led To The Head glauben soll. Woher kommt diese Faszination für Labyrinthe?

Jesse Osborne-Lanthier Ich bin froh, dass mein Set diese Reaktion bei dir hervorgerufen hat. Labyrinthe und Irrgärten – lassen wir den genauen Unterschied hier mal beiseite – haben mich schon immer fasziniert. Das kommt wohl von einer frühen Liebe zu Spielen rund um Strategie, Puzzles, Rätsel und Mysterien… Da ist etwas in diesen fantastischen Elementen, ihrer Entfremdung und in der Mehrdeutigkeit. Sie schaffen es gleichzeitig zu verwirren und zu leiten, sie liefern Hinweise und täuschen; sie lenken genauso wie sie ablenken; es werden mehrere widersprüchliche oder gegensätzliche Elemente oder Gefühle dadurch propagiert, während trotzdem immer noch das eine Ziel der Freiheit angestrebt wird. Teile davon lassen sich eben sehr gut auf Kunst und Musik anwenden und dazu in Beziehung setzen Herausforderung, das Anstreben von Abstraktion in der Wahrnehmung, etwas in Frage stellen, sich in etwas verlieren, ein Problem in imaginären oder fiktiven Objekten und Strukturen finden und dieses dann auch lösen.
Die angesprochene Performance gründete genau auf diesen Gedanken. Das Labyrinth, von dem wir in diesem Kontext sprechen, soll nur ein Eindruck sein, aber die Ideen hinter der Musik sind genau mit dem Symbol der Funktion der Struktur verbunden. Facettenreiche, sich abwechselnde Wände von geschichteter Zukunft werden vermischt, abgeglichen und ineinander verschmiert bis sie nicht mehr wiedererkennbar, aber gleichzeitig auch vertraut sind. Genau eine solche spielerische Verwirrung ist meine Art einen Dialog zu führen, um ein von mir gewähltes Objekt metaphysisch zu vermitteln.
Ich versuche Schritt für Schritt, das Interesse der Leute an einem solchen Dialog zu wecken, so dass sie diesen in Frage stellen, daran teilnehmen und Ideen, Gedanken und Vorstellungen weiter verfolgen. Es bewegt mich, wenn Leute aufgrund eines solchen Klanges oder Bildes perplex reagieren oder sogar Angst bekommen, denn so durchdringt der Verstand die oberflächlichen Schichten, die Musikalität und erreicht etwas anderes. Mehrdeutigkeit hat einen Nutzen: Sie liefert einen breiteren Ansatz, der nicht vorhersehbare Nutzen beinhalten kann. Dies kann soweit gehen, dass der Zuhörer und das eigentliche Material weiter sind als der Raum, in dem sie sich befinden.

JOL Der Irrgarten, um den es bei genau diesem Release geht – zum Beispiel verglichen mit der Performance, bei der du anwesend warst – sollte physisch erfahrbar, berührbar sein. Darum ist Geld ein problematischer Faktor. Ich hatte die Absicht einen echten, mit verschiedenen Installationen und interaktiven Projekten gefüllten Irrgarten zu bauen, bei dem der Spieler oder Zuschauer eine Reihe von Herausforderungen meistern müsste, um den Ausgang zu erreichen. Die ganze B-Seite von From A Flawed Apex Which Led To The Head kommt von Test-Audiodateien, die ich für den Soundtrack zur Durchquerung des Irrgartens zusammengestellt habe. Töne in konstantem Fluss, anschwellend und wieder versickernd, während die Personen sich bewegen und die Aufgaben erfüllen, die zum Ausgang führen. Letztlich ist es besser, dass das Projekt fiktiv geblieben ist – nicht nur aufgrund der fehlenden Finanzierung. Ich hab so mehr aus dem Ganzen rausbekommen. [Anmerkung von JOL untenstehendes Video]

SD Gernot Candolini hat mal geschrieben dass, «Labyrinthe und auch Tanzflächen die Pfade sind, die zum Reflektieren dienen». Es gab wohl mittelalterliche Kirchen, deren Fussböden mit Labyrinthen ausgeschmückt waren und auf denen die Leute tanzten.

«Labyrinthe, Raves – ein und dasselbe.»

JOL «Gernot Candolini folgt den Spuren des Labyrinths, dem Aufbrechen und Loslassen, den Wendungen, die uns widerfahren, den Erkenntnissen in der Mitte und dem Weg wieder nach aussen.» Genau so, ja? [Lacht] Labyrinthe, Raves – ein und dasselbe.
SD Du warst vor allem als bildender Künstler tätigt bevor du Musiker / Produzent / Künstler im Bereich Musik wurdest. Hast du einen ähnlichen Ansatz bei der Musik wie als bildender Künstler? Ist der Prozess derselbe?

JOL Ich mache immer noch, eigentlich mehr denn je, «bildende Kunst».
SD OK, fairer Einwand – aber ich habe die Vergangenheitsform verwendet, um auf eine Zeit hinzuweisen, zu der du noch nicht so bekannt warst mit deiner Musik.

der Antrieb dahinter ist derselbe. [Anmerkung von JOL untenstehendes Video]

SD Vor sechs Monaten, als du in den Buchladen kamst, in dem ich arbeite, hast du nach zwei Büchern gesucht Joshua Simons Neo Materialism und Metahavens Black Transparency. Sowohl deine visuelle als auch deine Arbeit im Audio-Bereich adressieren ähnliche Themen wie Simon und Metahaven – ist das eine aktuelle Faszination oder etwas, das deinen kreativen Output definiert?

JOL Beide genannten Bücher stimmen mit den Themen überein, an denen ich mich versuche. Ich würde aber nicht sagen, dass sie oder ihre Autoren meinen kreativen Output definieren, aber ich habe halt die Angewohnheit in alles, das ich mache, einzutauchen. Es geht aber auch darum, mich an mich selbst zu erinnern, zu erinnern was ein «Wahr» und was ein «Falsch» auslöst, sich an einem bestimmten Punkt im Leben daran zu erinnern, woher eine Faszination an Interessen kommt. Es soll mich dazu veranlassen, was auch immer ich als stark und fesselnd empfinde, weiter zu verfolgen. Ich neige zum Vergessen, schiebe Dinge auf die lange Bank und lasse sie dort Staub ansammeln. Es wird chaotisch. Wenn ich also eine Idee oder ein Interesse in eine Komposition übersetze, hilft es mir zu transzendieren und ans Erinnern erinnert zu werden und dann wird es wirklich ein Teil meines Gedankenprozesses. Ab diesem Punkt ergibt es Sinn für mich und ich kann auf einem anderen Level damit umgehen. Das kann mit allem und jedem passieren, von Büchern bis Essen, von einem bestimmten Moment bis zu einer Theorie, von technologischem Gelaber bis zu leeren politischen Floskeln. Es ist alles Teil des Konglomerats.

SD Der grosse Teil deiner Arbeit scheint über einen konzeptionellen Rahmen oder über eine Philosophie dahinter zu verfügen. Wie werden diese zusammengehalten – zu einem Stück, einem Set, einem ganzen Projekt?

JOL Nun, da kommt’s wirklich auf die individuellen Einflussfaktoren während bestimmten Zeitabschnitten und die da aktuellen Bedingungen an. Ich könnte jetzt die persönlichen Hintergründe aller Stücke oder deren Titel vertiefen; wieso ich ein jedes Bild gemachte habe, das ich ins Internet stellte; oder wieso ich eben denke, dass es eine Verbindung zwischen Netzwerkkabeln und den japanischen Udon Nudeln gibt – aber das würde es auch nicht klarer machen. Im Grunde geht es nur darum, dass mein Verständnis meiner Umwelt und meiner Bedingungen rauskommt, dass das Setting meines persönlichen Lebens durch Abstraktion auf ein Medium gelangt. Da gibt es keine strickte Philosophie, die schön verpackt daherkommt und einem diktiert, wieso ich mache, was ich mache. Es ist viel mehr die Summe von Erfahrungen, durch Werkzeuge übersetzt, die mir im Umgang mit allem helfen, das so abgeht. Das ist auch einer der Gründe, wieso ich mich nicht an einem Genre festmache und mich vom Begriff «Musik» abgrenze. Es interessiert mich einfach in das einzutauchen, was mich anspricht und mich damit zu beschäftigen. Wenn ich das runterbreche, geht’s wirklich nur darum, auf einem persönlichen Level zu lernen und mich weiterzuentwickeln, mit dem idealen Ausgang des Simulierens irgendeiner neuen kognitiven Antwort der Zuhörerinnen und Zuhörer (eine Kollegin, ein Fan, ein Feind, ein Freund). Und das könnte alles sein; von einer Absicht bis zu einer Idee, einem Gedankenprozess; eine Einsicht, ein Problem, eine Frage. Ich nehme alles, da es um die Teilnahme an einer Konversation geht.
Entsteht eine Zusammenarbeit bei dir aus einer geteilten konzeptionellen Vision?

«Es ist langweilig und frustrierend, wenn man so lange warten muss, bis sein Werk sich physisch manifestiert.»

JOL Ich neige mehr und mehr dazu, so damit umzugehen, denn es war ein Mischmasch; aber ich fokussiere mich auf Projekte, die mich auf einem tieferen Level als auf reiner ästhetischer Anziehung ansprechen.

SD Du warst sehr produktiv. Seit Beginn des letzten Jahres hattest du fast zehn Veröffentlichungen verteilt auf verschiedene Projekte und Kollaborationen. Wie filterst du da Sachen raus?

JOL Tag für Tag versuche ich das herauszufinden. Gerade mit Musik. Es ist langweilig und frustrierend, wenn man so lange warten muss, bis sein Werk sich physisch manifestiert. Und man fühlt sich nie komplett damit verflochten und verbunden aufgrund der zeitlichen Distanz, den verschiedenen Überlegungen, Ansichten, etc. Ich versuche einen Teil dieses Stresses zu eliminieren, indem ich darauf setzte, Material dann unmittelbar zu machen, wenn ich einen Spitzenpunkt einer emotionalen Phase erreiche – oder einen Schlüsselmoment im Bemerken von Veränderungen in mir und um mich herum. Daneben versuche ich klar zwischen irgendwelchen Jams und wirklichen Stücken zu trennen. Weiter bin ich gerade daran, eine Routine zu entwickelt, wenn es um diese speziellen und kritischen Momente geht. Dabei dienen die Jams und die weniger definierten Aufnahmen als Wegweiser. Wenn es mir gelingt, die wichtigen Gedanken in solch entscheidenden Momenten in die Musik zu übertragen, dann kann ich wohl viel Selbsthass eliminieren und so sollte es mehr Spass machen, eine permanente Verbindung zu Konzepten herzustellen. Ein formellerer Weg, um den Prozess zu prozessieren, würde es einfacher machen, das Ganze aufs nächste Level zu bringen. Einen weitergehenden globalen Prozess zu dem Prozess hinzuzufügen, den ich in den vorher erwähnten Systemen anwende… Ist das zu sehr Meta-Quatsch?

SD Viele deiner aktuellen Veröffentlichungen wurden live aufgenommen, direkt von den Mischpulten an den verschiedensten Shows in Europa und Nordamerika. Kannst du den Prozess dahinter erklären – gehst du an eine Show und weisst, während du auf der Bühne stehst, dass du eine Platte daraus machst oder folgt die Entscheidung erst später, wenn du zufrieden bist mit dem Resultat.

JOL Ich nehme alles auf, was ich in einem Live-Setting mache, weil ich nie dasselbe Set zweimal spiele. Es hat etwas sehr zufriedenstellendes, wie unmittelbar und final das dann ist… Etwa 70% des Materials auf meiner Harddisk wurde nur einmal performt und dann archiviert unter «Konglomerat der persönlichen Erfahrungen».
Die Sachen auf Athenaeum Of Unedited, Superannuated, Incomplete, Unreleased, Intimate Works, 2011-2013 wurden während des Zeitfensters im Titel aufgenommen. Es fühlte sich an wie ein Übergang, ein Logarithmus. Eine Brücke wurde geschlagen zwischen den verschiedensten Geisteszuständen, die ich durchlebte, dem Versuch eine Balance in mir zu erreichen und wirklich herauszufinden, was ich mir eigentlich vorgenommen hatte, mit Musik zu erreichen. Die Auswahl der Tracks für diese bestimmte Veröffentlichung war ziemlich mühsam. Es dauerte lange, bis ich bereit war, die Segmente des Materials so herunterzubrechen, dass sie für das passend waren, was ich ausdrücken wollte. Es ist nicht einfach so, dass ich ein paar Mal live spiele und dann entscheide, dass daraus eine Platte werden soll. Es war sehr schwer, mich mit dem Material genügend wohl zu fühlen, um es dann in die Welt hinauszusetzen.
SD Also wie Prozesskunst oder die Fluxus-Bewegung. Dein enormer Output und dein Engagement mit einem Live-Setting lassen den Leser am Werk teilhaben und es wird weniger isoliert.

JOL Ja genau. [Anmerkung JOL:]

Da waren Durchdenk-und-Auswähl-Prozesse, die stattfanden, nachdem ich bemerkt hatte, auf wie viel unbenutztem Material ich eigentlich sass. Diese Prozesse haben dann wohl zu einer Art Distanziertheit geführt. Obwohl ich eigentlich froh bin, dass es jetzt draussen in der Welt ist, habe ich nur noch eine Verbindung zum konzeptionellen Narrativ hinter dem Album und nicht mehr wirklich zu den Sounds selber. Otherwise Insignificant Psyche Debris war viel stärker definiert und kam geradezu exponentiell zusammen. Den grössten Teil des Materials habe ich innerhalb von drei Wochen komponiert, sporadisch performt und aufgenommen. Das ist immer noch weit weg von dem, was ich eigentlich anstrebe. Aber ich denke, es geht in die richtige Richtung. Und ja… Jetzt lerne ich hyperkritisch zu sein mit meinem Output und damit, wie er präsentiert wird. Die Live-Aufnahmen dienen mehr als Wegleitung für den Zustand, den ich bei fertigem Studio-Material zu erreichen ver-
suche.

SD Auf Otherwise Insignificant Psyche Debris liebe ich das Stück «A Two Minute Breather», da es einfach zwei Minuten Stille ist nach einem richtig chaotischen und wilden Glitch-Track.

JOL Es überrascht mich, dass du den perkussiven Track als «richtig chaotisch» bezeichnest. Für mich fühlt sich der sehr geordnet an… Eine Dekonstruktion passiert zwar nach einem gewissen Punkt in der Hälfte, aber in meinem Kopf ist das alles sehr präzise und geordnet.

SD Da gehen unsere Interpretationen von Chaos wohl auseinander.

JOL Wenn du den «stillen» Track laut genug aufdrehst, dann findest du einige Klänge dort! Das Stück ist nämlich Teil einer gescheiterten LiveAufnahme einer Performance. Ich wollte einen stillen Teil haben, um beide Seiten des Tapes gleich lang zu machen, ohne ein weiteres Musikstück hinzuzufügen. Ich war aber faul und hab mich an dieses kaum hörbare Stück erinnert. Davon hab ich dann zwei Minuten rausgeschnitten, et voilà!