Endgame – Keine spezifische Sache

Spätestens nachdem Kamixlos offizielles Solo-Debüt Demonico auf dem PAN-Sublabel Codes erschienen war, rückte Bala Club – ein Londoner Konstrukt zwischen Klubnacht, Label und Vision – ins breite Bewusstsein der Szene für elektronische Musik. Zu besagtem Kollektiv zählt neben Kamixlo und dessen Bruder Uli K auch Endgame, der mit der Flesh EP auch eine Veröffentlichung auf Kode9s Hyperdub Label vorweisen kann. Bala Club indes steht für eine Mischung aus knallharter Klubmusik, Reggaeton, brasilianischem Funk, Metal und UK-Drill – eine verrückte Mischung, die gleichermassen ab Konserve wie im Klub funktioniert. Grund genug sich 2016 mit Endgame vor seinem DJ-Set im Rahmen des After/Anti-Street-Parade-Raves Lethargy zu unterhalten. Léonard Vonlanthen und Guy Schwegler trafen ihn am Ufer des Zürichsees nahe der Roten Fabrik und besprachen mit dem Londoner mitunter den Bala Club.

Text: Léonard Vonlanthen, Guy Schwegler
Photo: Jennifer König

Guy Schwegler:         Du hast den Bala Club mitbegründet. Wie kam das zustande? Und nimmst du eine bestimme Rolle innerhalb des Kollektivs ein?

Endgame:   Wir sind alle zusammen abgehangen, haben Partys veranstaltet und Musik gemacht. Die Sachen waren also schon da, aber es hat wohl Sinn gemacht, dem einen Namen zu geben und ein Umfeld zu kreieren, das es so noch nicht gab. Mit der Klubszene in London fühlten wir uns nicht verbunden und darum wollten wir unser eigenes Ding unter unseren eigenen Bedingungen haben, ohne dass wir uns jemand anderes Idee von Klubmusik hätten anpassen müssen. Bala Club startete dann mit ein paar Leuten und ist seither gewachsen. Dabei gab es aber keine spezifische Rollenverteilung oder so. Mit der Bala Club Vol. 1-Kompilation wollten wir zeigen, um was es uns geht – auch wenn nicht alle Leute darauf wirklich Teil des Kollektivs sind. Jeder konnte und kann einen Input geben.

Léonard Vonlanthen:  Was hat euch in den anderen Szenen gefehlt und euch schlussendlich dazu veranlasst, euer eigenes Ding zu machen?

EG:     In der Dance Music gibt es keinen Platz für Verletzlichkeit und Emotionen – und für Andersartiges. Besonders Grime-Nächte können sehr machohaft werden, was uns und unseren Vorstellungen nicht entspricht und weit von einer Umwelt entfernt ist, in der wir uns aufhalten möchten. Wir wollten einen Raum schaffen, in dem wer auch immer was auch immer machen kann und in dem alle willkommen sind.

GS:     Ich war in letzter Zeit ein wenig von Reggaeton besessen. Und für mich ist euer Bala Club eines der sichtbarsten Zeichen eines generellen Trends oder Spiels der Szene für elektronische Musik mit Reggaeton. Würdest du dem zustimmen?

EG:     Zu Beginn war Reggaeton für uns sicherlich sehr wichtig. Wir spielten diese Musik in den Klubs und sie war auch die ursprüngliche Inspiration für die erste Veröffentlichung – das Blaze Kidd Mixtape Exclusivo. Diese Beats zu produzieren machte für uns Sinn. Es ging aber nicht darum, dem Genre zu entsprechen. Reggaeton war nur ein Teil der Inspiration. Bei der Veröffentlichung handelte es sich um ein lateinamerikanisches Ding, aber kombiniert mit dem Sound Londons. Seither hat sich das Ganze verschoben und wir sind stärker von der neuen Rap-Welle aus den USA beeinflusst.

LV:     Woher kam bei euch die Faszination für Reggaeton oder auch für Funk? Hast du viele brasilianische Freunde und Kolleginnen? Oder hast du dich in lateinamerikanischen Ländern aufgehalten?

EG:     Kamixlo und andere sind mit Reggaeton aufgewachsen. Diese Musik ist für sie entsprechend etwas sehr natürliches. Das beeinflusste auch mich. Ich selber habe viel Zeit in Jamaika verbracht, da mein Vater lange dort lebte. Und somit habe ich schon immer viel Dancehall gehört. Es ist allerdings sehr schwierig, diesbezüglich auf dem Laufenden zu bleiben. Der musikalische Output dieses Landes ist einfach wahnsinnig – man muss vor Ort sein und Radio hören, zu Soundclashes gehen und so weiter, um dranbleiben zu können. Das Interesse an Funk kam vor allem durch das Auflegen: Die Energie dieser Art von Tanzmusik ist für mich auf einem anderen Level; es ist der härteste Shit, den ich finden konnte. Und das interessiert mich: Energie. Wenn ich Sachen höre, die unglaublich hart sind, dann spiele ich sie, egal woher sie kommen oder wer sie gemacht hat. Und dafür ist Soundcloud optimal: Ein ungefilterter, chronologischer Feed. Niemand sagt einem, das Eine sei besser als das Andere – obwohl sich dies auch schon zu ändern beginnt.

LV:     Soundcloud ist eine unerschöpfliche Quelle.

EG:     Ja. Und deshalb finde ich, dass wir bezüglich Musik in der spannendsten Zeit leben, die es je gab: Die Art und Weise, wie sich Sounds verbreiten, wie Personen zusammenarbeiten können – das ist unglaublich und inspirierend. Wir leben teilweise in der Zukunft und das macht alles neu und spannend. Daher ist es für mich unverständlich, dass sich irgendjemand noch einem Musik-Genre verschreiben würde; das ist doch langweilig und irrelevant. So funktioniert die Welt nicht mehr – die Welt ist ein Durcheinander und die Leute kommen von überall her. Musik sollte genau das reflektieren.

LV:     Hat ein Funkeiro oder eine Reggaetonera bereits einmal Kontakt mit dir aufgenommen aufgrund deiner Musik?

EG:     Ganz ehrlich: Ich glaube, diese Szenen sind zu gut; die Produzenteninnen, die MCs – die Sachen, die sie rausbringen sind zehnmal besser als alles, was ich je erreichen könnte. Wenn die meine Sachen hören, denken sie bestimmt, dass das unglaublich schwach ist. Die Produzentinnen sind vielleicht 19 Jahre alt und produzieren zehn tolle Beats pro Woche. Aber natürlich interessiert das hier niemanden, denn man könnte es nicht verkaufen. Und die Produzenten interessiert das wiederum nicht, weil sie bereits in Brasilien oder wo auch immer Stars sind.

LV: In den Sechzigern kamen viele US-Amerikaner nach Brasilien und annektierten Bossanova als ihr eigenes Ding. So wurden viele verdrängt, die das Ganze in Rio gestartet hatten. Mit Funk scheint dies nicht zu passieren, weil die involvierten Personen bereits Superstars sind…

EG:     Vielleicht suchen einige auch den Erfolg in den Staaten – wobei sie das nicht nötig haben. Ich sollte zum Beispiel eine Show mit MC Bin Laden in New York spielen, aber er konnte erst gar nicht ins Land einreisen. Für ihn und andere ist das fast schon unmöglich – sie sind auch einfach irgendwie zu real. Dazu kommt berechtigterweise eine grosse Portion Misstrauen. Ein Freund aus Lissabon hat mich zum Beispiel mit Leuten aus der Tarraxa Szene verlinkt und da hab ich das selber mitgekriegt: Ich erhielt Reaktionen in der Art von, «was kümmert dich das überhaupt? – das ist nicht deine Szene». Das verstehe ich voll. Ich möchte auch nicht, dass jemand einfach kommt und die eigene, selbst aufgebaute Szene ausnutzt. Ich würde aber trotzdem unglaublich gerne mit diesen Leuten zusammenarbeiten. Ich kann nur hoffen, dass sie anhand meiner veröffentlichten Musik sehen, dass mir das Ganze echt am Herzen liegt und dass ich nicht einfach nur versuche, jemanden auszunutzen.

LV:     Die Hegemonie von europäischer Dance Music in Europa stellst du ja mit deinem Ansatz des Einbeziehens von Reggaeton und Funk etwas in Frage. Gleichzeitig gibt es eher wenig elektronische Musik in Lateinamerika – zumindest habe ich das so erlebt. Könnte die Art von Verbindungen, die du pflegst, zu einer stärkeren Beliebtheit von elektronischer Musik in Lateinamerika führen?

EG:     Das mag sein. Doch auch hier: Die ortsansässigen Szenen sind zu gut. Die brauchen nicht irgendwelche Leute aus London, die sich einzumischen versuchen – wie das etwa bei der Footwork-Szene in Chicago der Fall war. Plötzlich kamen all diese Typen aus Grossbritannien und machten dieselbe Musik wie sie. Aber es bedeutete eben nicht dasselbe. Es handelt sich um sehr spezifische Szenen. Referenzen sind ja kein Problem, aber man sollte nicht versuchen, Teil davon zu werden. Dasselbe war ja auch bei uns und dem Bala Club der Fall. Wir sind von Funk, Reggaeton und ähnlichem beeinflusst, aber wir versuchen von nichts anderem Teil zu sein, als von unserer eigenen Szene.

GS:     Man kann das von zwei Seiten betrachten: Kritisch als kulturelle Appropriation oder – vielleicht etwas blauäugig – als Anerkennung eines weiteren Aspekts der elektronischen Musik, welcher ja offensichtlich auch zum grossen Ganzen gehört.

EG:     Kulturelle Appropriation bedeutete ja die Verwendung von Elementen ohne Verständnis für diese. Darauf wollte ich mit der Footwork-Referenz hinaus. Die Leute haben weder die kulturellen Referenzen noch sonst etwas davon verstanden, sondern einfach nur Drumbeats abgekupfert. Was wir mit dem Bala Club machen, ist tatsächlich ehrlich und kommt von Herzen. Es ist auch nie ironisch oder so gemeint. Es entspricht zu 100% dem, was uns interessiert. Und mich interessiert eben, wie London als multikulturellster Ort der Welt klingt. Man hat ständig Freunde um sich, die aus der ganzen Welt kommen und einen beeinflussen. Und ich will Musik machen, die das reflektiert. Sehr bewusst haben wir deshalb nicht einfach Reggaeton oder Dancehall gemacht, sondern Musik, die von dem beeinflusst ist, was wir jeden Tag hören.

GS:     Gibt es deines Erachtens andere Bereiche oder Szenen, die ähnliche Referenzpunkte verwenden und zum Beispiel den Tresillo-Rhythmus etablieren wollen?

EG:     Es gibt noch nicht wirklich eine breite Szene dafür – und das ist das Interessante und auch das Glückliche daran. Sobald nämlich so etwas benannt wird – also etwas ist, worauf man zeigen kann –, geht die Energie verloren. Aber natürlich gibt es Leute, die mit ähnlichen Referenzen arbeiten wie wir. Moro aus Argentinien zum Beispiel oder die New Yorker Flex-Szene, die eine Mischung aus Vogue und Dancehall kultiviert. Auch das war eine grosse Inspiration für mich – diese unglaubliche Energie trotz des langsamen Tempos.

GS:     Betreffend Tempo: In den letzten Jahren kamen verschiedene Aspekte in die elektronische Musik zurück – Wave und EBM oder Hardcore und Jungle zum Beispiel. Dies erfolgte dann jedoch meistens auf einem Standard Techno-Tempo. Deine Veröffentlichungen hingegen – und auch einiges aus dem Bala Club-Umfeld – sind gerade auch deshalb spannend, weil sie sich ziemlich strikt um 100BPM bewegen.

EG:     Ich glaube, wir alle wollten nichts machen, das zu sicher ist. Wir könnten schon 130BPM Klub-Banger produzieren, aber das wäre irgendwie nicht befriedigend. Es ist doch viel interessanter, etwas in einem Bereich zu machen, in dem es noch nichts gibt und den Umgang damit schwierig zu gestalten. Davon abgesehen gibt’s jeweils pro EP einen Track, der nicht auf 100BPM produziert wurde. Trotzdem kamen natürlich ein paar Grime-DJs und meinten: «Wir würden dein Zeugs spielen, wenn es auf 130BPM wäre…» Das hat mich ein wenig enttäuscht – sie haben sich zu wenig Mühe gegeben.

GS:     Siehst du die Verwendung von Dembow-Rhythmen und ähnlichem als etwas Neues im Kontinuum der elektronischen Musik?

EG:     Es gibt ja all diese verrückten Sachen in Lissabon und den Vororten von Paris – Tarraxa und Kizomba. Die Musik ist auf einem anderen Level; sie ist unglaublich emotional. Wie dort Melodien geschrieben werden, entspricht den Grime-Melodien: Sie sind roh, klaustrophobisch und melancholisch.

GS:     So wie XTCs Functions On The Low?

EG:     Genau.

LV:     Ihr bewundert also die erwähnten Szenen in Lissabon, Paris, Rio, usw. Das von jemandem aus London zu hören, ist spannend – nicht zuletzt ist London der Brennpunkt für viele etablierte Musikszenen, etwa wie Grime…

EG:     Ehrlich gesagt ist Grime ziemlich tot. Skepta, Stormzy und all diese Leute sind am Durchstarten, ja, aber das sind nur wenige. Das neue Ding in Grossbritannien ist die Drill-Szene. Für mich ist das um einiges aufregender, als jene Beats, die es schon seit 15 Jahren gibt. Das Drill-Ding hingegen, das bringt die Sache auf ein neues Level. Das Ganze ist immer noch so roh – sozusagen wie es Grime einmal war. Gleichzeitig erhält die Szene wenig Beachtung – gerade von Mainstream-Medien. Und in zehn Jahren sagen dann alle: «Ohh, ja, Drill war grossartig.» Diese Leute sollten die Sache heute schätzen.

GS:     Ich habe einige Reviews über deine Musik gelesen und da taucht auch das Wort «experimental» auf. Ist das ein Anspruch von dir an deine Musik – dass sie experimentell ist? Oder was siehst du als zentrales Merkmal deines Schaffens?

EG: Ich weiss es eigentlich gar nicht. Ich würde nicht sagen, dass meine Musik sehr experimentell ist hinsichtlich ihrer Struktur – die ist ziemlich einfach. Ich denke, die Musik ist nur in Bezug auf die Herangehensweise, die Referenzpunkte und ihre Leere experimentell. Aber ich fühle mich musikalisch nicht gut genug, um mich als experimentell zu bezeichnen. Es gibt aber sicherlich eine Konstante in dem, was ich tue: Ich arbeite oft mit Sängern, die ungewöhnlich sind – etwa mit Uli K, Organ Tapes und Rules. Ich möchte zwar nicht einfach nur Beats produzieren; gleichzeitig finde ich, dass Sängerinnen oft etwas Spezielles haben. Diejenigen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, haben ähnlich viele Referenzen wie ich und versuchen auch nicht nur eine spezifische Sache zu sein.

LV:     Verstehst du die spanischen oder portugiesischen Songtexte?

EG:     Vivi [Uli K] und Kami [Kamixlo] sind in London aufgewachsen, aber ihre Eltern kommen aus Chile und sie sprechen Spanisch miteinander. Daher ist ihre natürliche Gesangsstimme Spanisch. Bei Blaze Kidd ist das ähnlich: Er kam von Ecuador nach London, als er etwa zwölf Jahre alt war. Das heisst, seine natürliche Rap-Stimme ist Spanisch. Ich selber habe aber nie Spanisch gesprochen – und das lässt mich nicht ganz in Ruhe. Seltsamerweise habe ich auch keine Ahnung, was Young Thug sagt. Ich finde seine Musik aber trotzdem gut. Die Emotionen kommen von anderswo her, denn bevor man seine Lyrics versteht, weiss man bereits, was er meint. Dasselbe bei Organ Tapes: Man versteht kaum ein Wort von dem, was er sagt, aber das muss man auch nicht.

Das soll nun nicht allzu prätentiös klingen, aber Lyrics braucht man erst nachdem man die Musik verstanden hat. Hör dir irgendeine Hardcore-Band an. Und das interessiert mich: Ich möchte, dass die Musik die Leute bewegt, ohne dass sie sich zu viele Gedanken darüber machen oder die Musik dekonstruieren müssen. Ich will mit meiner Musik etwas ausdrücken, das man nicht in Worte fassen kann. Darum interessiert mich auch die neue Generation Rapper: Sie gehen sehr experimentell mit ihrem Gesang um und sagen sehr oft inhaltlich quasi nichts aus, aber musikalisch eben so viel. Deshalb hasst die ältere Generation deren Musik.

GS:     Es ist interessant, dass du Emotionen erwähnst… Wenn man sich deine Musik anhört, dann hört sich das eher wie funktionale Klubmusik an…

EG:     Ich bin mit elektronischer Tanzmusik, aber auch Emo und Hardcore aufgewachsen – kathartische Sachen also. Das mag ich. Ich möchte nie langweilig oder zu genau sein. Das Schlimmste, das passieren könnte, wäre, wenn jemand meine Musik hört und sie ihm gleichgültig wäre. Viel lieber hätte ich es, dass die Person meine Musik hasst – deshalb die Emotionen. Sie machen die Sache real und durch sie erkennt man, dass eine Person und nicht etwa eine Maschine dahintersteckt. Dabei hilft es natürlich, wenn man mit Gesang arbeitet. Aber auch bei meinen Instrumentals ziele ich darauf ab – mal mehr, mal weniger erfolgreich. Kid D, ein vergessener Grime-Produzent, war unglaublich gut darin… und natürlich auch Burial. Es geht darum, elektronische Sachen zu verwenden um etwas Menschliches damit auszudrücken.