26.07.2022 von Guy Schwegler

DJ Stingray – Ein ernstzunehmender Beitrag

Nach ersten Releases als Urban Tribe ab Mitte der neunziger Jahre wurde der Detroiter Sherard Ingram zur Jahrtausendwende zum offiziellen Tour-DJ der Drexciya-Gruppe [1]. Allein schon diese Tatsache verleiht ihm in gewissen Kreisen einen Legenden-Status. Für Ingram selbst spielte diese Erfahrung sicherlich eine wichtige Rolle, erhielt er doch im Rahmen besagter Tätigkeit den Namen Stingray und wurde aufgefordert, während dem Auflegen eine Sturmmaske zu tragen – was er auch noch heute tut.

Nach dem frühem Tod von James Stinson – der einen Hälfte von Drexciya – im Jahr 2002 und damit dem Ende von Drexciya stand bei Ingram einige Jahre sein Urban Tribe-Alias im Zentrum. Erst 2007 nahm er den Stingray-Namen wieder auf und begann darunter Musik zu veröffentlichen. Diese widmet sich dem Unding namens Electro: Der kleinen Schwester von Techno, die irgendwo bei Miami Bass anfing, sich über Detroit und dann via der Westküste Hollands weiterentwickelte, es aber nie zur selben Prominenz wie dem Hauptexport der Motor City in Sachen elektronischer Musik schaffte. Die Gründe dafür sind vielfältig – der (unbeabsichtigte) Flirt mit Electroclash in der ersten Hälfte der nuller Jahre oder die Tendenz zu synkopierten Beats und mörderischen Tempos gilt es diesbezüglich zu untersuchen. Trotzdem: Wenn DJ Stingray hinter den Plattenspielern steht, löst das auf den Tanzflächen Begeisterung aus. Auch die verschiedensten Labels scheinen eine Schwäche für Stingrays Sound zu haben, erschien doch seine Musik genauso auf belgischen Boutique- wie englischen Big-Room-Labels. Ingram arbeitet indessen stetig an seinen skelethaften Rhythmen weiter und bleibt seinem Genre im selben Masse treu, wie er es weiterentwickelt – so wie etwa auf der eben erschienen Kern Mix-CD für Tresor.

zweikommasieben-Autor Guy Schwegler traf im Sommer 2016 im Luzerner Klub Kegelbahn auf Ingram und wohnte einem DJ-Set im Rahmen des CTM Festivals 2017 im Berghain bei. Nach ersterem Auftritt führten die beiden etwas Smalltalk, der später vertieft wurde.

Guy Schwegler Spielt die Sturmmaske noch eine Rolle, um deine Identität zu schützen? Schafft sie es noch, «das Ego zurückzustellen» und ihren eigentlichen Zweck zu erfüllen?

Sherard Ingram Ich glaube, zum jetzigen Zeitpunkt wurde daraus ganz einfach eine Ästhetik. Anonymität ist in der heutigen Welt praktisch unmöglich. Aber ich hoffe, sie schafft es, eine Orientierungshilfe für jüngere Künstlerinnen und Inspiration für Veteranen zu sein. Es gibt Aspekte des Tragens der Sturmmaske – meinem Wissen nach im Techno-Kontext eine von Underground Resistance initiierte Tradition –, die ebenfalls nutzbar gemacht werden können und auf die ich hier nicht eingehen werde. Davon abgesehen ist es wichtig, nach denjenigen Ausschau zu halten, die diese Ästhetik auf eine abgedroschene, unaufrichtige Art und Weise verwenden.

GS Wurden die Maske und andere Teile deines Outfits [2], die du während DJ-Sets trägst, bereits zu einem Symbol oder einer Marke? – oder gar zu etwas Ikonografischem? Würde es nicht schon wieder mehr Sinn machen, die Maske nicht zu tragen?

SI Vielleicht wurde das Outfit zu einer Marke und einem ikonischen Look. Aber schaut man sich die gegenwärtigen, total seelenarmen und verderblichen Ikonen, Symbole und Marken an, dann ist das vielleicht ganz gut? Was das Nicht-Tragen der Maske angeht: Das ist, als ob man eine Künstlerin oder einen Performer fragt, Teile seiner oder ihrer Präsentation zu entfernen, um einer formalen Logik zu entsprechen.

DJ Stingray at work

GS Wie sehr interessierst du dich für eine Ästhetik rund um Musik? Sind Bilder, Geschichten, Themen und andere nicht-musikalische Aspekte, die mit einem Werk verbunden sind, wichtig für dich?

SI Wenn es möglich ist, diese Elemente zu nutzen und wenn Ästhetik inspirierend wirkt, dann sind das wichtige Kriterien. Für Musiker und Produzentinnen von elektronischer Musik ist es heute zentral, so multidimensional zu sein, wie nur möglich – insbesondere für diejenigen, die exzentrische und schwierig zu vermarktende Musik machen. Das ist insofern von Bedeutung, als dass wir in einer multimedialen Welt leben. Konzepte, Bilder und Themen sind also sehr wichtig.

GS Wie sehr unterscheidest du zwischen Techno und Electro? Und wo siehst du Unterschiede in der jeweiligen Ästhetik?

SI Der Hauptunterschied liegt heute darin, dass in den meisten Techno-Tracks ein 4/4-Kickdrum-Pattern vorkommt, wogegen bei Electro-Stücken genau dieses Element schier inexistent ist. Weiter verwendet Techno oft einen Latin-Stil bei der Perkussion und ist teilweise sehr nahe an House. Electro hingegen setzt auf einen grobkörnigeren Sound mit viel Bass und ist aggressiver in Bezug auf die Patch-Selektion bei Synthesizern. Jüngst höre ich aber auch bei vielen Releases eine Mischung der beiden Stile, was mir sehr gefällt.

GS In anderen Interviews erwähntest du technologische Entwicklungen sowie damit verknüpfte Chancen und Gefahren als eine wichtige Inspiration für und auch Referenzpunkt von deiner Musik [3]. Denkst du, dass diese Themen stärker mit einer Ästhetik von Electro als mit derjenigen von Techno verbunden sind?

SI Darüber habe ich noch nie nachgedacht, um ehrlich zu sein. Ich denke aber, dass beide Formen unlimitiertes Potential haben, Fragen hinsichtlich dieser Thematik aufzuwerfen.

GS In meinen Augen liegen beiden Genres je eigene, komplett verschiedene futuristische Konzepte und Umgänge mit einer potentiellen Zukunft zugrunde. Würdest du dem grundsätzlich zustimmen?

SI Ich stimme dir insofern zu, als dass Techno eben etwas Präzisem, Sauberem entspricht und Electro generell aggressiver ist, um es mal so zu sagen. Ausgehend von einer solchen Generalisierung können sicherlich zwei Teilgebiete oder Ansätze in Bezug auf futuristische Konzepte und Themen abgeleitet aber auch verschmolzen werden. Oder anders gesagt: Techno ist Star Trek während Electro Starship Troopers entspricht.

GS Könnte für die aktuelle Popularität des Electro-Genres dessen ästhetischen Bezug zur Welt, also beispielsweise die oben beschriebenen düsteren Vorstellungen von Zukunft, verantwortlich gemacht werden?

SI Ich glaube, die Leue – insbesondere die jüngeren – haben ganz einfach entdeckt, dass es da noch mehr gibt. Es gab und gibt so viele DJs, Produzentinnen und Künstler, die sich um den 4/4-Kickdrum-Ansatz drängen und dadurch wurde eine gewisse Sättigung erreicht. Aber versteh mich nicht falsch, es gibt sehr viele exzellente Stücke mit genau diesem Ansatz. Und es gibt auch andere Aspekte neben dem Kickdrum-Pattern, die im Techno überbeansprucht wurden und die den Leuten ermöglichten, Electro über dem sonstigen Rauschen wahrzunehmen.

GS In Anbetracht deiner Reise-Frequenz, deiner Popularität in Europa und auch der Anzahl Shows, die du hier spielst: Wie sehr fühlst du dich noch als Bürger der USA, als Teil der amerikanischen Szene und siehst du Detroit noch als dein Zuhause an?

SI Technisch gesehen bin ich immer noch ein Bürger der USA und ein Produkt der Detroiter Arbeiterklasse. Und ich freue mich darauf, alles zu geben, um die amerikanische Szene so lebhaft auf der kollektiven Ebene zu machen wie in Europa.

GS Was fehlt denn deiner Meinung in den Staaten nach und wo gibt es Potential für Verbesserung? Oder anders gefragt: Kann und sollte man überhaupt von Verbesserung sprechen und damit Unterschiede normativ behandeln?

SI Es gibt in den USA einige engagierte Personen, die hart daran gearbeitet haben, um eine robuste Szene in ihrer jeweiligen Gegend zu etablieren und dies immer noch tun – Personen, die Geld, Zeit, Schweiss und Tränen hergeben. Und es wird noch mehr davon brauchen: mehr Arbeit, Hingabe, schlaue Geschäftsmodelle sowie furchtlose Künstlerinnen und DJs. Weil in den USA muss man gegen eine massiven Anhängerschaft von kommerzieller Musik antreten – und gegen Untergruppen von unaufrichtigen Opportunisten.

GS Kann elektronische Musik in den USA noch Teil einer Bürgerrechtsbewegung sein – ich denke etwa an Black Lives Matter –, konnte sie das je oder war sie es schon einmal?

SI Sollte elektronische Musik je der Soundtrack einer progressiven, sozialen und US-amerikanischen Bewegung werden, dann wird es nicht eine der aktuellen populären Bewegungen sein, deren Mehrheit meiner Meinung nach nicht auf Wissenschaft und Technik beruhen. Ich denke, dass die rasante technologische Entwicklung des 21. Jahrhunderts die Voraussetzungen für eine neue Art von Aktivismus geschaffen hat, mit dem Rassismus, ökonomisches Wachstum um seiner selbst Willen und andere lächerliche Paradigmen via empirische Evidenz demontiert werden.

GS Könnte das Scheitern hinsichtlich der Teilnahme an einer bestimmten Bewegung mit der Ästhetik rund um die Musik verbunden sein? Und wiederum: Siehst du hier Unterschiede zwischen Techno und Electro?

SI Die meisten Leute, die Techno und Electro hören, sind wahrscheinlich sowieso losgelöst von einem Mainstream und das bedeutet, dass sie auch losgelöst sind von einer populären Bewegung. Die Zeit wird noch kommen, in der unsere Paradigmen zählen, ohne uns mit einer bestimmten Gruppe zu verbinden. Was ich damit meine, ist, dass im Idealfall etwas aus der Ästhetik von Techno, Electro oder dem Untergrund herauswächst. Wir müssen niemanden darum bitten, uns unter seine Fittiche zu nehmen.

GS Um was könnte oder sollte es dabei gehen?

SI Vereinfacht gesagt: Das Lösen von Problemen mittels Wissenschaft und Technologie sowie dem Fokus das zu tun, was für das menschliche Tier am besten ist.

DJ Stingray portrayed

GS Wie sehr hat sich die Situation seit der Wahl von Trump für die elektronische Musik verändert?

SI Ich weiss es wirklich nicht. Aber ich hoffe auf eine Ära, die den möglichen negativen Veränderungen dieser Administration angemessene ist.

GS Welche neueren musikalischen Einflüsse versuchst du in deinem eigenen Framework zu integrieren? Juke und Footwork kommen ziemlich präsent vor – beispielsweise während deines DJ-Sets im Klub Kegelbahn oder auch auf der Split-EP mit Galaxian [4] –, auch war da ja auch noch die Zusammenarbeit mit Russell Haswell [siehe zweikommasieben #17]…

SI Die ganze Grime-Ästhetik gefällt mir sehr, dann auch schwarzer, amerikanischer Trap und – glaub es oder nicht – richtig fortschrittlicher Techno. Viele Juke- und Footwork-Stücke sind einfach der Wahnsinn! Und ja, ich habe einen Remix [5] für sowie eine improvisierte Show im Berghain mit Russell gemacht.

GS Ist das Feld der experimentellen Musik etwas, worin du gerne vermehrt arbeiten möchtest? Und wie sehr, denkst du, ist deine Musik experimentell? Berührungspunkte [6] gab es ja schon einige…

SI Ich sag es mal so: Ich bin an experimenteller Musik interessiert – sofern wir von Musik sprechen, in der unkonventionelle Kompositionstechniken, Zeitsignaturen, Skalen, Instrumenten, usw. vorkommen. Die Künstlerin sollte sich mit ihrem Stück in einen Bereich wagen, in dem sich «normale Musiker» nicht bewegen können oder wollen. Mein Fokus ist die Tanzfläche. Das heisst jedoch nicht, dass ich mich nicht weiterentwickeln möchte. Aber es gibt gewisse Parameter, die meiner Musik vorangestellt sind. Ich respektiere Musikerinnen und Künstler, die experimentelle Musik gemacht haben, daran arbeiten. Darum will ich mich nicht einfach hinter einen Synthesizer setzen, willkürlich und ohne einen rhythmischen Part zufällig Tasten drücken und mich dann als eklektisch bezeichnen. Ich möchte einen ernstzunehmenden Beitrag leisten.

[1] Siehe auch Drexciyans unter uns! von Anna Froelicher in zweikommasieben #14.

[2] Neben der Sturmmaske trägt Imgram oft auch ein Shirt mit dem grossen «D» der Detroiter Baseball Mannschaft.

[3] Siehe Interview im Wire Magazin: https://www.thewire.co.uk/in-writing/interviews/dj-stingray-unedited (heruntergeladen am 07.04.17).

[4] NU-1000, Shipwrec 2016

[5] «Gas Attack (DJ Stingray Atropine Mix)», Diagonal 2015

[6] Sherads Musik wurde zum Beispiel auf experimentellen Labels wie Wémè oder Lorennzo Sennis Presto?! [siehe zweikommasieben #18] veröffentlicht. Weiter fand auch eine Kollaboration mit Gerald Donald unter dem NRSB-11 Namen satt, deren Output sich als «experimentell» bezeichnen lässt.

 

Dieses Interview erschien ursprünglich 2017 in zweikommasieben #15. Der Upload auf unsere Website ist nicht zuletzt eine unserer Reaktionen auf die Proteste gegen Rassismus, die in der USA (und an anderen Orten) stattfinden, und dieses Problem in der Arbeit der Polizei sowie in der Gesellschaft allgemein anprangern. Wir möchten mit dem Upload von Interviews wie diesem einerseits den Beitrag von schwarzen Künstlerinnen und Musikern im Rahmen der Kultur betonen, die wir mit zweikommasieben seit einigen Jahren nun dokumentieren. Anderseits möchten wir auch dazu aufrufen, Institutionen und Organisationen zu unterstützen, die an diesen Protesten und den damit verbundenen Zielen beteiligt sind. Während es diverse Unterstützungsmöglichkeiten hierfür gibt (siehe etwa hier oder hier spezifisch für die Schweiz), möchten wir an dieser Stelle auf das Southern Poverty Law Center hinweisen und zu einer Spende ermutigen: https://donate.splcenter.org/