15.06.2018 von Remo Bitzi

Brian Case: Spannung und Raum erkunden & exklusiver Mix

Brian Case ist eine feste Grösse in der Chicagoer Szene für Experimental Rock. Im vergangenen Jahr war Case im Südpol in Luzern zu Gast. Wir interviewten den amerikanischen Musiker nach dem Konzert. Das Gespräch über Spannung, Raum und mehr, das ursprünglich in zweikommasieben #15 erschien, veröffentlichen wir nun an dieser Stelle. Zudem präsentieren wir einen exklusiven Mix, den Brain anlässlich seines anstehenden Albums für zweikommasieben aufgenommen hat.

Als Teil der Band 90 Day Men – unter anderem mit Robert Aiki Aubrey Lowe aka Lichens – veröffentlichte Brian Case seit Mitte der neunziger Jahre verschiedene Platten, bevor er sich 2008 mit Graeme Gibson (der später durch Sonic Youth-Drummer Steve Shelley ersetzt wurde) zu Disappears zusammenschloss. Darüber hinaus ist Brian Case aufgefallen als Teil des Duos Acteurs, das zwei Platten auf dem grandiosen Londoner Label Public Information veröffentlichte. Seit 2016 tritt Case zudem als Solokünstler auf: Sein Debüt-Album Tense Nature erschien auf Hands In The Dark. Sein zweites Album mit dem Titel Plays Paradise Artificial wird diesen Monat ebenfalls auf dem französischen Label veröffentlicht.

Seine jüngeren und jüngsten Projekte zeichnen sich durch eine Vehemenz aus, die ihresgleichen sucht: Die oft repetitiven Tracks von Disappears, Acteurs und auf Tense Nature sind nicht nur maximal reduziert, sondern auch maximal angespannt. Mit scheinbar simplen Elementen frisst sich der Sound von Case in den Kopf seiner Hörerinnen. Schon fast belästigend wirken die Tracks, auf jeden Fall aber ungemütlich. Und doch hört man hin – muss man hinhören. Die kahlen Räume, die Case in seinen Kompositionen zu konstruieren weiss, erschliessen sich dem Hörer nämlich nur nach und nach. Geschickt lenkt Case die Aufmerksamkeit – Cliffhanger à gogo.

Ende 2016 spielte Case im Südpol Luzern. Vor einer Videoprojektion eines Steins, der sich scheinbar ungestüm und ruckartig bewegt, bediente er einen kleinen Instrumentenpark und sprach hin und wieder einige monotone Worte ins Mikrofon. Remo Bitzi unterhielt sich nach dem Konzert für zweikommasieben mit dem amerikanischen Musiker.

Remo Bitzi Ich wollte mit dir vor allem über zwei Sachen sprechen – Spannung einerseits und Raum anderseits. Mit deinem Soloalbum wurde es offensichtlich: Das Wort Spannung kommt im Titel vor, das liegt auf der Hand, aber auch die Struktur der Tracks zeugt davon. Auch all deine anderen jüngeren Arbeiten zeichnen sich durch eine Art von Spannung aus. Nun frage ich mich, woher das kommt – gibt es Referenzpunkte?

Brian Case Ja, die Stadt, in der ich lebe.

RB Das wäre Chicago?

BC Richtig. Gewalt ist allgegenwärtig, es gibt immer Spannungen. Man fühlt es; man muss dem vielleicht nicht nachgeben, aber man muss darauf gefasst sein.

RB Inwiefern?

BC Man muss sich dessen einfach bewusst sein; man weiss, diese Spannungen sind da. Ich finde es wichtig, dass man musikalische Entscheidungen bewusst trifft – und nicht einfach nur etwas macht. Offensichtlich muss man Spannung aufbauen, um diese dann wieder auflösen zu können. Und man kann sich entweder auf das Eine oder auf das Andere konzentrieren; aber ich finde, dass es interessanter ist, mit beiden umzugehen.

BC Ja. Das Video wiederholt sich sogar – es ist meditativ, aber es hat auch eine Spannung. Schlussendlich kann die Betrachterin entscheiden, was es ist: Entweder ist es ein Loop und man weiss, was kommt und kann es annehmen – man lernt also, wie man es akzeptieren kann. Oder es ist einfach immer dasselbe und das treibt einen in den Wahnsinn. Die Musik folgt der gleichen Logik.

RB Du sagst, in Chicago gäbe es viele Spannungen. Lösen sich diese denn auch auf?

BC Ich glaube ja. Aber ich weiss nicht, ob dem jeder zustimmen würde… Treibt man die Dinge bis zu einem gewissen Punkt, kehren sie als etwas Anderes zurück; das ist eine Art von Erlösung. Trotzdem liegt immer noch eine Anspannung in dieser Erlösung. Es geht mehr um Klarheit, als um eine tatsächliche Erlösung. Man fokussiert einfach auf einen Aspekt, anstatt auf viele verschiedene und das bringt eine gewisse Entspannung mit sich, die aber immer noch ihre Ecken und Kanten hat.

RB Kannst du ein Beispiel nennen?

BC Es ist wie bei dem einen Song auf dem Album – «Pattern 1»: Da hört man zu Beginn hauptsächlich Drums, die ich mit Effekten bearbeite. Der Beat ist sehr angespannt und dann füge ich langsam einen Ton hinzu – es ist nach wie vor der selbe Beat, aber mit diesem hohen Ton [imitiert den Ton] entspannt sich der Track. Und dann, nachdem der Ton eine Weile da ist, wird er ebenfalls zu einer Art Spannung, obwohl er anfangs eine Entspannung darstellte.

RB Und kannst du bezüglich der Stadt konkreter werden? Die ständige Ahnung von Gewalt stellt die Spannung dar und die Gewalt an sich wäre dann die Erlösung?

BC Nein, ich denke, die Erlösung ist Akzeptanz, Wissen. Erlösung ist nicht zwingend die tatsächliche Verwirklichung oder die Präsentation von etwas. Man kann die ganze Zeit angespannt und ängstlich oder was auch immer sein, aber anzuerkennen, warum etwas passiert, ist auch eine Art von Erlösung. Eine Nicht-Erlösung wäre dann eher: Ich befinde mich in einer Situation, ich weiss nicht warum dem so ist und ich weiss auch nicht, wie ich da wieder rauskomme. Aber sich bewusst zu sein, warum etwas ist, wie es ist, ist eine andere Sache. Man kann die Sache lokalisieren und sie angehen. Das reduziert zwar die Spannung nicht, aber wenn man ein Gesicht oder einen Namen zu etwas hat – also wenn man die Sache ansprechen kann –, dann kann man die Sache verarbeiten.

RB Ok, dann ist es diese Art von doppelter Negation – kein entweder oder…

BC Ja, es ist eine Kombination davon.

RB Heute wurde in den USA ein neuer Präsident gewählt. Dadurch wird es nicht einfacher, so zu denken – oder irre ich mich?

BC Ja. Die Person, die gewählt wurde, ist offen frauenfeindlich und rassistisch. Dadurch wird die Sache schwieriger. Es ist nicht einfach… Alles, was mit Rasse zu tun hat, ist in den USA extrem belastet – es gibt so viel Spannung und es gibt so viele Probleme… Die Situation ist einfach dermassen angespannt und die Person, die nun gewählt wurde, positioniert sich so klar auf der einen Seite des Spektrums, dass es einfach beängstigend ist. Man kann in eine Situation kommen, in der man nicht wäre, würde man anders aussehen und würden die Leute nicht einfach Sachen annehmen, von denen sie nichts wissen. Das ist beängstigend…

RB Ok, lassen wir das für den Moment sein und sprechen über Spannung und Erlösung in den Künsten: Die Laokoon-Gruppe ist ein gutes Beispiel dafür, würde ich sagen.

BC Ja.

RB Gibt es andere Werke, die dir einfallen?

BC Was mich interessiert, sind Werke, die man von verschiedenen Seiten anschauen kann… Wenn ich eine Show wie heute spiele, dann kommen auch Leute, die tanzen und Spass haben wollen. Ich muss also, bevor ich auf die Bühne gehe, einige Entscheidungen treffen. Als was versteht das Publikum meine Performance? Was ist deren Wahrnehmung? Das sind die wirklich interessanten Fragen. Hängt ein Pissoir in einer Toilette, dann ist das etwas, wo man reinpisst und nicht weiter darüber nachdenkt. Stellt man dasselbe Pissoir in ein Museum, dann wird es zu etwas anderem. Man kann sich also fragen, was die Leute dazu bewegt, etwas anders zu sehen. Das interessiert mich.

Für mich ist Musik eine Kunstform, aber viele Leute verstehen Musik als Unterhaltung. Das kann ich natürlich nachvollziehen – es ist spannend und frustrierend zugleich. Es ist halt einfach so.

Es gibt Abende, da fühle ich mich unwohl. Anderseits gibt es Abende, da funktioniert das, was ich mache. Trete ich in einer kleinen Galerie auf, wo alle ruhig sind und etwas erwarten, das avant ist oder seltsam, dann ist die Wahrnehmung eine ganz andere, als wenn ich vor einem Publikum spiele, das sich seit vier Stunden betrinkt und einfach überwältigt werden will. Das, was ich mache, kann überwältigend sein, aber es unterscheidet sich sehr stark von etwas, bei dem man keine Wahl hat – von einer Band etwa, die den Raum beherrscht.

RB Etwas anderes: Im letzten Sommer hatte ich die Idee, ein Buch zu machen – du musst wissen, dass ich das Gegenteil eines Cholerikers bin, mir aber manchmal wünsche, einfach aufgrund einer Kleinigkeit wütend zu werden und es rauszulassen. Die Idee war es, ein Ratgeberbuch zu machen, im Sinne von In zehn Schritten zum Choleriker. Als ich dich nun spielen sah, wollte ich am liebsten den Stein nehmen und etwas kurz und klein schlagen. Die Musik ist dermassen geladen, sie hat etwas Passiv-aggressives.

BC Klar.

RB Du stimmst dem zu?

BC Es ist einfach eine Wahrnehmung. Die Musik ist nicht absichtlich passiv-aggressiv, sie ist einfach sehr ehrlich – wie ein Gemälde oder eine Skulptur: Man schaut sich etwas an und fühlt sich vielleicht beleidigt oder ist verwirrt. Veröffentlicht man als Künstler etwas, dann gehört es einem nicht mehr. Das Werk gehört dann jemand anderem und es kommt drauf an, wie die Sache angeschaut wird…

RB Das ist spannend; wir hatten in unserer Ausgabe #14 mehr oder weniger genau diesen Gedanken ins Editorial geschrieben.

BC Man muss akzeptieren, dass es verschiedene Auffassungen davon gibt, was man macht. Ich habe diese Rock-Vergangenheit. Und obwohl die meisten Bands, in denen ich gespielt habe, eine experimentelle Arbeitsweise hatten, konnte man sehen, was bei einem Konzert passiert. Bei meinen Konzerten aber sieht man nicht mehr, was genau passiert; also hinterfragt man die Sache. Aber ich muss nach vorne schauen; würde ich immer das Gleiche machen, dann wäre das nicht mehr interessant. Ich meine, einige Leute mögen das – à la «Ich liebe die Ramones» oder «…AC/DC», das ist toll! Aber ich kann nicht immer das Gleiche machen, das wäre für mich nicht befriedigend. Ich will Fortschritt und Abwechslung. Auch wenn die Leute meinen Output nicht mögen – das ist mir egal. Ich muss mich dem stellen; das ist meine Aufgabe als Künstler. Ich kann nicht selber entscheiden, ob das, was ich mache, gut oder akzeptabel ist – andere Leute werden diese Entscheidung letztlich für mich treffen.

RB Alles klar. Gehen wir weiter: Die andere Sache, über die ich mit dir reden wollte, ist Raum. Auch hier wurde es mit deinem Soloalbum ziemlich offensichtlich: Raum ist ein wichtiger Bestandteil deiner Arbeit. Und ich fragte mich, wie du da vorgehst: Beschäftigst du dich mit Raum als abstraktes Konzept, oder ist das praktisch gedacht?

BC Ja, es geht definitiv um Raum… und auch um Geduld. Grundsätzlich unterscheidet sich eine Aufnahme stark von einem Konzert. Ich kann mein Soloalbum in einem Setting wie heute nicht live spielen, weil die Musik dann nur ein Hintergrundrauschen wäre und sich niemand darum kümmerte. Man muss sich an die jeweilige Situation anpassen und versuchen, gewisse Sachen einzubinden. Man versucht. einen abstrakten Raum zu erzeugen, aber man muss den konkret vorhandenen Raum nutzen, die Lautstärke, die Eigenheiten…

RB Und beim Komponieren: Wie gehst du da mit Raum um?

BC Musik aufzunehmen, bedeutet auch zu forschen. Es gibt viele kleine Teile, die man zusammenfügt – wie bei einem Puzzle. Bei einem solchen Album hat man nicht Rock Song nach Rock Song nach Rock Song. Es geht darum, wie man seine Ideen organisiert, damit sie ein grosses Ganzes ergeben. Die Frage ist, wie man das macht. Und das ist wiederum so, wie wenn man einen Song schreibt: Man hat all diese Teile und Stimmungen, die man drin haben will, und all das muss man so zusammenfügen, dass es eben Sinn ergibt. Bei so einem Album ist es eigentlich dasselbe – einfach anders, weil das Ganze nackt ist und abstrakter.

RB Wovon gehst du denn aus, wenn du Musik aufnimmst? Geben Geräte oder ein PA den Raum vor, in dem du dich bewegst?

BC Alle Samples, die ich für das Album verwendet habe, sind mit einer Gitarre erzeugt worden. Ich habe auch einige Drum Machines eingesetzt, aber eigentlich habe ich vor allem eine Reihe von Gitarren aufgestellt und damit gespielt, bis etwas entstand, das ich dann aufnahm. Dann schnitt ich die Aufnahmen nach Belieben, bis wiederum etwas anderes entstand. Die Idee dahinter ist nicht, etwas zu schreiben und es dann aufzunehmen, sondern etwas entstehen zu lassen, das man nicht erwartet oder geplant hat. Ein wichtiger Gedanke hinter der Platte waren Locked Grooves. Das war ein Ausgangspunkt, der aber irgendwann keine Rolle mehr spielte, da der Output stets unvollkommen war. Das mag ich. Ein anderer Ausgangspunkt war, etwas aufzunehmen, von dem man denkt, man wisse, was es sei, und es dann zu zerstückeln, bis daraus etwas anderes wird – etwas Unerwartetes. Für mich sind die unvollkommenen Stellen interessant – es ist das Menschliche. Die Maschinen, die etwas machen, das nicht ganz on point ist. Ich glaube, das ist ein grosser Teil von dem, was ich tun will – aber auch von dem, was mich in der Kunst und Musik interessiert. Das Unvollkommene ist die persönliche Komponente – das, was die Leute anzieht… Ich mag Sänger, die nicht so gut singen können – Neil Young zum Beispiel: er ist kein guter Sänger, aber er hat immer grossartige Lyrics und man glaubt ihm alles, was er singt. Auch sein Gitarrenspiel ist nicht grossartig… Gleichzeitig ist es so verdammt gut. Ein Ein-Saiten-Gitarren-Solo kann so viel mehr aussagen als alles, was Van Halen in ihrer 50-jährigen Karriere gemacht haben. Weisst du, was ich meine?

 

Am 22. Juni erscheint Plays Paradise Artificial, das neue Album von Brian Case, ebenfalls auf dem französischen Label Hands In The Dark.