03.03.2015 von Marc Schwegler

I:Cube – Es ist nicht mehr das Selbe, aber es passiert immer noch

Es ist bitterkalt auf dem Dach des legendären Luzerner Sedel in dieser klaren Dezembernacht. Nicholas Chaix alias I:Cube – der später als Main Act ein bombastisches Liveset spielen wird – hat sich zusammen mit zweikommasieben-Autor Marc Schwegler über die Feuertreppe in den Backstage zurückgezogen, um sich dort, abseits des Trubels, in Ruhe unterhalten zu können. Schlotternd steht Schwegler einem Mann gegenüber, der die letzten zwanzig Jahre europäischer Klubkultur miterlebt und teilweise auch mitgeprägt hat. Mit M:Megamix hat Chaix 2012 sein Opus Magnum veröffentlicht. Trotz des Titels ist das Album kein Mix, sondern vereint einzelne Originalproduktionen. Diese dauern aber jeweils nur etwas über zwei Minuten und die vierundzwanzig Tracks wechseln sich mit solch beeindruckendem Gespür für Stimmung ab, wie man es auch bei guten DJ-Sets nur selten erlebt. Mehr als genügend Gründe also, trotz der Kälte die Lauscher aufzusperren und mit Blick auf den Rotsee etwas über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Klubs zu räsonieren – mit einem, der was davon versteht.

Marc Schwegler: Du hast in einem Interview erwähnt, dass du dich in den Neunziger Jahren ein bisschen «on the left field side of things» gefühlt hättest. Erinnerst du dich an dieses Statement?

I:Cube: Ich hatte immer schon eine etwas ambivalente Beziehung zur Klubszene. Ich habe Dance Musik eigentlich über das Radio kennengelernt – das war Ende der Achtziger Jahre. Es war nicht so, dass ich die ganze Kluberfahrung von Beginn an gehabt hätte. Das kam erst später. Vielleicht ist das etwas komisch – aber so war es für mich. Für mich war die Musik immer zentral. Inzwischen kann ich verstehen, wie alles zusammenhängt, aber damals war ich noch sehr jung und es war eine schräge Art, mit dieser Art Musik in Verbindung zu treten. Wahrscheinlich geht es gewissen Leuten heutzutage ähnlich, wenn sie House über das Internet kennenlernen. Du hast diese Lücke der fehlenden physischen Verbindung – du hast nur ein Bild von der ganzen Sache. Gleichzeitig denke ich aber auch, dass ich deshalb anfing, Musik zu machen. Ich hatte immer nur ein Bild vor Augen; ein naives, imaginäres Gemälde – ein Eindruck von dem, was diese Musik sein könnte.

MS: Und damit vielleicht auch ein Idealvorstellung davon, was diese Musik sein sollte?

IC: Ja, natürlich. Ich war nicht wirklich Teil einer Szene, ich ging nicht in die Klubs, aber ich habe, glaube ich, schon damals die Essenz dieser Musik intuitiv verstanden. Und das ist für mich ein Grund, warum ich sie immer noch mag: Selbst wenn du nicht Teil dieser Klubszene bist, kannst du dazu eine Verbindung aufbauen. Für mich war die Musik immer an erster Stelle. Natürlich mag ich die Partys, die Klubs – aber die Musik kam zuerst.

MS: In den vergangenen zwei Jahren gab es einige junge Producer, die ohne grossen Szenehintergrund durchgestartet sind. Die haben vieles einfach via Internet entdeckt…

IC: Ich mag ja das Label 100% Silk total gerne. Die sind glaub ich aus Portland [Anmerkung d. V.: Die Labelbetreiber haben ihren Sitz in Los Angeles] und machen ja auch Not Not Fun, das eher so in eine Drone-/Metal-Richtung geht. Die haben diesen total freshen Approach für House-Musik. Es braucht Leute mit einem anderen Background, sonst wird die Sache schnell steril, snobby und konservativ. Ich mag es sehr, wenn verschiedene Leute mit unterschiedlichen Hintergründen etwas machen – die geben etwas davon hinzu. Ich glaube gar, dass es bei dieser Musik genau um das geht: Verschiedene Leute zusammenzubringen.

Man muss jedoch schon auch sagen, dass das Internet die ganze Sache teilweise pervertiert hat. Man kommt so leicht zu allem und kann dann eine Art Collage davon erstellen. Für mich war es damals anders: Du hattest einfach die Musik per se und musstest versuchen herauszufinden, wie das Ganze produziert wird. Das war natürlich amateurhaft – und ist es übrigens immer noch: Ich sehe mich nicht als professionellen Musiker.

MS: Dein Album M:Megamix scheint mit seinem Konzept auf den Klub zu zielen. Es besteht aus Tracks, die nur kurz auftauchen – wie bei einem DJ-Mix. Du hast aber vorhin gesagt, dass dich in erster Linie die Musik und nicht das Klubumfeld interessiert. Ist das nicht ein Widerspruch?

IC: Ich habe seit den Neunziger Jahren an vielen, vielen Partys gespielt. Worüber ich vorhin gesprochen habe, das war davor. Hier geht’s aber vor allem um das Album-Format, welches im Kontext von Dance Musik einfach irrelevant ist. Diese Musik fängt ja eigentlich nur den Moment ein. Daraus ein Album zu machen, das macht doch heutzutage keinen Sinn mehr. Man kann heutzutage kein Album wie From The Mind of Lil Louis [Anm. d. Verf.: Frühes House-Album von Lil Louis, 1989] – das zu seiner Zeit ein Konzeptalbum war – mehr machen. Das hat auch mit den veränderten Hör- und Konsumgewohnheiten der Leute zu tun.

Mir ging es darum, eine Alternative zu diesem Format vorzuschlagen. M:Megamix mag auf seine Art cheap sein; naiv auch. Ok, jetzt dieser Track tönt so, dann der nächste, zack – aber das ist die Art und Weise wie Leute heutzutage Musik hören. Denn ich glaube nicht, dass die Leute heutzutage noch ein Album von A bis Z durchhören. Sogar bei Indie-Rock und Co. bin ich mir da sicher. Ein Mix von einem DJ ist doch inzwischen – insbesondere für Klubmusik – viel relevanter als ein Album.

MS: Offensichtlich hat das Internet ja einen grossen Teil zu dieser Entwicklung beigetragen. Hat es aus deiner Sicht einen wirklichen, grossen Shift gegeben – nicht nur beim Musikkonsum sondern auch in Bezug auf die Musikproduktion?

IC: Natürlich – man kann das nicht mehr vergleichen mit vorher. Jeder aus jedem Teil der Welt kann theoretisch Bescheid wissen über das, was im Moment abgeht. Es kommt jede Menge guter Musik raus. Aber was ich schon etwas vermisse, ist das Magische, das Mystische am Ganzen. Darum spiele ich gerne ältere Platten – dort findet man dies noch. Heutzutage ist mir alles etwas zu sehr referentiell. Zu oft sind es Hommagen an etwas, das davor bereits gemacht wurde. Keine Attitüde mehr – obwohl es selbstverständlich schon noch Leute gibt, die versuchen, an die Grenze zu gehen.

Natürlich hat sich auf der Produktionsseite alles verändert. Du kannst jetzt mit einem Laptop ein Album produzieren, das tight und sharp klingt. Aber im Endeffekt ist es eine ästhetische Frage für mich: Du hast auf der einen Seite diese starke Hightech-Ästhetik, auf der anderen Seite jedoch auch Lo-Fi-Zeug wie bei den frühen Chicago-House-Produktionen. Letzteres entsteht jedoch nicht mehr aufgrund von Produktionszwängen, sondern es ist eine ästhetische Absicht.

Es ist eine zwiespältige Geschichte mit dieser Entwicklung. Ich bin aber nicht nostalgisch. Es ist auf jeden Fall spannender heutzutage. Man muss aber auch immer dranbleiben, weil man ansonsten eine Menge verpasst.

MS: Ist dir handwerkliche Qualität wichtig?

IC: Naja, ich sehe mich auf jeden Fall mehr als Handwerker und weniger als Musiker. Das französische «Artisan» trifft es eigentlich ziemlich gut [lacht]: Man hat seine eigene Identität, tut Dinge auf seine Art. Man hat seinen eigenen Sound – was auch immer das heisst, ob das ein super Hightech-Sound ist oder eher Lo-Fi. Heutzutage ist alles etwas mittelmässig geworden, es gibt wenige richtige Ausnahmen. Die Sachen sind immer noch fresh, aber sie beziehen sich oft auf die Vergangenheit. Mein Zeug ja auch. Aber eigentlich sollte ja eines jeden eigene Geschichte im Mittelpunkt stehen. Wenn jeder nur schon Existierendes nachahmt, ist das nicht interessant.

MS: Ich habe in den letzten Jahren eine Reihe von Partys mit jungen englischen DJs und Producern promotet, gerade vor kurzem waren Blawan und Pariah hier…

IC: Blawans 12“ auf Clone letztes Jahr fand ich richtig gut. Klassischer Techno aber neu kontextualisiert – echt beeindruckend. Das hat auch jede Menge Einflüsse, aber ist gefüllt mit roher Energie und einem zeitgenössischen Sound. Seine Musik hat jede Menge Schichten, das mag ich.

MS: Auf jeden Fall. Nun, mir ist in diesem Zusammenhang aufgefallen, dass eine Menge Leute, die sozusagen als Bedroom-Producer mit digitaler Produktion begonnen haben, nun heiss darauf sind, mit analogen Geräten zu arbeiten. Denkst du, dass auf Produzenten-Seite eine Art Überdruss an all den digitalen Spielereien besteht?

IC: Nun ja, ich denke, um Geräte zu kaufen, braucht man erst einmal Geld. Mir persönlich ist es egal, ob jetzt etwas analog oder digital produziert worden ist. Das was am Ende rausschaut ist entscheidend.

Ich habe Freunde, wie Zombie Zombie zum Beispiel, die mit rein analogen Geräten arbeiten. Wenn du die live siehst, haben die eine Power, welche mit digitaler Arbeitsweise wohl nicht erreicht werden könnte. Aber man muss immer abwägen – das ist eine nie endende Debatte. Natürlich ist es cool, wenn Leute nachdem sie mit Plug-Ins gearbeitet haben, den echten Scheiss kennenlernen wollen… Wenn dann aber einige nur noch mit modularen Synths arbeiten, ist das doch das andere Ende – das ist dann nur noch Sounddesign. Das ganze Beharren auf analoge Produktionsweisen kann schnell mal snobistisch werden. Im Endeffekt ist es doch so: Wenn du kein Geld hast, bleibst du halt am Laptop und arbeitest mit Plug-Ins. Wenn dann einer findet, «ach, das ist nicht analog, das ist keine echte Musik», dann hat der was nicht verstanden. Techno und House waren am Anfang nämlich genau das: Man hatte kein Geld, aber ein paar Maschinen rumstehen – also sagte man sich: «Naja, probieren wir mal, was sich damit tun lässt». Heutzutage ist das alles anders – aber wenn das Ganze zu konservativ wird, enden wir im Museum. Ein musealer Techno- und Housebegriff im Sinne von «WIR wissen was richtig und falsch ist und wie etwas sein muss» – das mag ich nicht. Diese Art von Musik ist sehr jung, man muss den Hunger und den Drang haben, etwas zu machen.

MS: In letzter Zeit war ich vermehrt an Shows, wo Leute, die ursprünglich aus einem Klub-Kontext kommen, mehr und mehr woanders hin wollten. Denkst du, es ist an der Zeit, dass die Leute sich sozusagen aus dem Klubkontext heraus emanzipieren?

IC: Was ich an Klubmusik mag ist ihr roher, simpler Charakter. Sie ist etwas Einfaches. Gleichzeitig kann sie aber auch sehr intellektuell sein, man kann sich auch den ganzen Tag auf seine Musik einen runterholen… Aber darum geht’s nun mal nicht. Natürlich verstehe ich Leute, die über ein Wissen bezüglich Klubkultur und Technik verfügen, und die jetzt was anderes ausprobieren. Aber das heisst doch noch lange nicht, dass die Flucht aus dem Klub in Richtung Kunstgalerie das Richtige ist.

Ich weiss, da gibt es viele Producer, die versuchen, neues Territorium zu erobern. Ich finde das toll, frage mich aber, in welchem Kontext diese Musik denn präsentiert werden soll. Sobald es darum geht, Musik wirklich zu erfahren, gibt es nur noch wenige Orte, die zur Wahl stehen. Man braucht ein adäquates Sound-System, um die Musik wiederzugeben, einen Ort, wo eine beinahe cineastische Erfahrung entstehen kann. Der Dance Music-Aspekt ist doch immer noch der Kern dessen, was diese Künstler tun.

Ich verstehe durchaus, was sich diese Leute überlegen – sie sagen sich, «ok, Klubmusik hat diese Formel – wir verstehen, wie sie funktioniert, also wollen wir weg davon, daraus ausbrechen und etwas anders versuchen». Das ist okay. Aber wenn das Ganze dann zu artifiziell oder zu «arty» wird, mutiert es doch auch zu etwas Anderem.

MS: Die Anfänge der Klubkultur wie wir sie heute verstehen, schienen eine Alternative zu bestehenden, hegemonialen Verhältnissen und Lebensentwürfen zu bieten. Der Klub bot Flucht- oder gar Protestoptionen. Ist das immer noch möglich oder gibt es nur noch den Konsum, nur noch Marketing?

IC: Der Klub war einmal ein Dazwischen von unterschiedlichen Systemen, Schichten, Szenen. Eine Art Melting Pot, ein Punkt, wo verschiedene Teilsysteme zusammenkamen. Heutzutage hat sich das Ganze aber woanders hin bewegt. Nun ja – ich bin 38 Jahre alt, ich gehe nicht mehr so viel aus. Aber die Musik mag ich immer noch, ich bin damit aufgewachsen und ich glaube es ist eine Musik, die immer noch ihren Platz und etwas zu sagen hat. Sie hat aber nicht mehr die gleiche, unmittelbare Kraft, auf die man sich einigen kann, bei der man gleich sagt: «Ok, das ist der Sound, das ist die Zukunft». Apropos Zukunft: Bei Techno ging es sehr um die Zukunft, um eine kybernetische Welt… Und heutzutage stecken wir doch mittendrin in dieser Welt. Das macht doch diese ganzen Statements zu etwas Vergangenem, etwas Antiquiertem. Trotzdem ist da aber immer noch diese Energie und das ist der Punkt bei dieser Musik.

Es ist doch so, es gab einen Bedarf nach dieser Musik, und sie war zum richtigen Zeitpunkt da. Und sie ist noch immer da. Heutzutage wird zwar alles schneller, alles ist globalisiert, es gibt nur noch wenige geografisch genau lokalisierbare Bewegungen. Aber die Idee existiert noch immer. Schon die Hippies hatten diese Idee. Es geht darum, verschiedene Elemente zusammenzubringen und es geschehen zu lassen.

MS: Siehst du dich denn noch als Teil einer Szene oder einer Bewegung?

IC: Techno und House – das ist ein Punk-Ding, es ist eine Teenage-Musik. Ab einem gewissen Punkt sagt man sich: «Shit, warum mach ich das immer noch, ich bin doch zu alt dafür.» Natürlich könnte man sich dann rausnehmen und was anderes machen. Ich wünschte manchmal, ich könnte das, aber dann verpasst man so vieles. Das ist natürlich ein DJ-Ding. Weil als DJ muss man immer auschecken, was läuft. Sonst ist man verloren, oder man spielt halt nur Musik von 1975 bis 1980. Ist auch eine Variante und ich spiele ja auch viele alte Platten. Aber wenn man den «JETZT»-Sound will, und das ist der, der relevant ist, der, um den es in dieser Musik eigentlich geht, dann muss man dabei bleiben.

Heutzutage sind viele DJs Spezialisten, weil es schwierig ist, das ganze Spektrum abzudecken. Aber ich mag DJs, die mich überraschen, bei denen ich mich frage, «verdammt, warum spielt er jetzt das, wie kombiniert er dieses mit jenem?» Es kann alter Stuff sein oder neuer – egal, es geht nur um den Kontext, in dem du dein Zeug präsentierst… Da gibt’s jetzt ja auch viele junge Leute, die auf den alten Shit stehen, auf Cosmic Disco und so, und den richtig diggen – es gibt immer eine neue Generation, die alte Sachen ausgräbt und neu präsentiert.

Um ehrlich zu sein: Ich bin ja kein grosser Internet-Fan. Ich kann’s nicht. Ich versuche es ja, aber irgendwann verliert man dabei die Fähigkeit, richtig hinzuhören. Beim Musikhören ist es wie beim Essen – man braucht Zeit, um die Dinge zu verdauen. Den Wegwerf-Aspekt am Internet mag ich nicht. Ich versuche immer Tracks zu spielen, an die ich wirklich glaube und für die ich mich auch in zehn Jahren nicht schämen werde. Wenn man zu oft die Richtung wechselt, verliert man die Persönlichkeit. Es geht nicht darum, ob man alt oder jung ist, sondern darum ob man was zu bieten hat oder nicht und ob einen die Leute verstehen oder nicht. Die Leute müssen im Klub eine Erfahrung machen können – und dabei geht es ja noch um viel mehr als nur die Musik. Das Licht, das Umfeld, die Crowd – das ganze Setting muss stimmen. Das ist aber sehr selten der Fall und das lässt sich auch nicht reproduzieren – das kann man auch nicht aufs Internet tun. Klar, kannst du ein Video davon auf YouTube stellen, aber das ist nicht das Selbe. Darum vermisse ich die ganze Mystik, die es früher gab – man musste sich vorstellen, wie es in anderen Ländern sein könnte. Man musste sich bemühen. Heutzutage… Ich weiss nicht… Es ist nicht mehr dasselbe, aber es passiert immer noch.