15.11.2018 von Marc Schwegler

Briefwechsel – Terre Thaemlitz: Identitätspolitiken in der Spätphase

Für die sechzehnte Ausgabe von zweikommasieben hat Redaktor Marc Schwegler mit Terre Thaemlitz einen regen Briefwechsel betrieben. Ein Jahr nach Erscheinen des Magazins bleibt die Diskussion über die Grundlagen heutiger Politik und die (Un-)Möglichkeiten, ihr zu entkommen, ungebrochen relevant. Wir haben uns deswegen entschlossen, diesen Text auch online zugänglich zu machen – nachdem er auch in der Festivalpublikation des CTM Festivals 2018 erschienen ist.

In der Klub- und Musikszene werden im Moment hitzige Gefechte rund um Fragen von Identität, Rasse und Geschlecht ausgetragen. Um nur ein besonders prominentes Beispiel herauszupicken: Die Streamingplattform Boiler Room etwa sah sich nach einer von ihr produzierten Dokumentation über die Technoszene von Glasgow heftiger Kritik ausgesetzt, nachdem Vorwürfe laut wurden, dass Teile eines Kommentars einer farbigen Produzentin herausgeschnitten worden waren. Nach einer Flut von Vorwürfen sah sich das Unternehmen – das sich selbst als weltoffen, multikulturell und progressiv vermarktet – gezwungen, eine ausführliche Stellungnahme zu veröffentlichen. Die gleiche Organisation wurde auch für ihre Liveübertragung des diesjährigen Notting Hill Carnival angegangen, nachdem sie dafür einen substantiellen Beitrag des British Arts Council erhalten hatte. Graffiti im Umfeld der Veranstaltung machten sich dem Unmut über das Unternehmen Luft und ein anonym geposteter Onlineartikel bezichtigte Boiler Room, die Künstler und karibische Kultur im Allgemeinen für eigene Zwecke zu benutzen. Erneut nahm Boiler Room ausführlich Stellung. Auf der anderen Seite finden sich auch Voten dafür, «endlich» (wieder) die Politik in der Dance-Music hinter sich zu lassen, wie etwa – ebenfalls nur als Beispiel – auf der etwas verdächtig wirkenden Website change-underground.com. Die Inklusivität und Offenheit einer profitorientierten Klubmusik-Industrie lobend schliesst etwa ein Artikel auf der Seite mit dem Votum, dass Dance-Music für alle da sei und es doch darum gehe, dass sie wieder nur Spass und Eskapismus sein könne.

Spätestens die Ereignisse in Charlottesville, Virginia, wo eine rassistische Demonstration gegen die Entfernung von Südstaaten-Denkmalen zu Gewaltausbrüchen führte und eine Gegendemonstrantin bei einem Anschlag mit einem Auto ums Leben kam, haben dazu geführt, dass identitätspolitische Konflikte auf breiter Ebene medial verhandelt werden. Bereits mit dem US Wahlkampf 2016 wurde jedoch deutlich, dass der nun scheinbar wöchentlich weiter eskalierende Kulturkampf absehbar war. Eng verbandelt mit Leuten der Trump-Kampagne haben sich rechtsradikale Kräfte wie die alt-right Zugang zum öffentlichen Diskurs im Westen verschafft. Es scheint sich dabei nicht um eine kohärente politische Bewegung per se zu handeln – viele der damit verbundenen Exponenten sind eher Abkömmlinge nihilistischer Onlinekulturen, User von Image Boards und Sub-Reddits. Die Insiderwitze und zynischen Memes dieser Kultur, die nun nicht länger nur als Randgruppe zu bezeichnen ist, scheinen sich dabei mit dem Widerstand gegen eine vermeintlich omnipräsente «Political Correctness», gegen Feminismus und gegen Multikulturalismus verknüpft zu haben. Vor allem aber stehen Bewegungen wie die alt-right für eine neue Form von antielitärer Gesinnung, die sich nicht nur in der ironiegeladenen DIY Kultur des Internets zeigt, sondern sich jetzt eben auch als politische Gruppierung offline äussert, wie Angela Nagle in ihrem kürzlich auch auf deutsch erschienen Buch Die digitale Gegenrevoluation (org: Kill All Normies, Zero Books, 2017) deutlich macht.

Nicht nur die Rechte, sondern auch die Linke hat sich jedoch online radikalisiert und vulgarisiert, argumentiert Nagle. Sie kritisiert einen für die gegenwärtige linke Identitätspolitik zentral gewordenen Kult des Leidens, der Schwäche und Verletzbarkeit der auf Plattformen wie Tumblr zu seiner Blüte gefunden habe. Gerade Leute, die sich online so sehr an der eigenen Verletzbarkeit und Selbstdemütigung abarbeiten würden, seien dann aber auch diejenigen, die sich mit derselben Bösartigkeit und Aggression hinter den eigenen Tastaturen versteckten, wie ihre Gegenspieler auf der Rechten. Der unlängst verstorbene, linke englische Kulturtheoretiker Mark Fisher hat dieser Konfiguration in einem Essay von 2013 bereits den Titel Vampirschloss («Vampires’ Castle») verliehen. Dieses Vampirschloss sei getrieben von einer priesterlichen Begierde nach Exkommunikation und Verdammung, von einer akademisch-pedantischen Begierde danach, der erste zu sein, der einen Fehler sehe und von der Lust des Hipsters, Teil der In-Crowd zu sein. Diese Priesterschaft des schlechten Gewissens, schrieb Fisher weiter, dieses Nest von frömmelnden Hetzern sei genau das, was Nietzsche bereits vorausgesehen habe, als er sagte, dass etwas schlimmeres als das Christentum bereits auf dem Wege sei.[1] Die jahrelangen Hasstiraden, Säuberungsaktionen und Schmierkampagnen gegen Andere, so schliesst sich ihm Nagle an, seien schlussendlich auch verantwortlich für die Attraktivität und den Erfolg der politisch unkorrekten, nonkonformistischen und dissidenten Rhetorik der neuen Rechten.

Um über diese Phänomene vertiefter zu diskutieren und sie historisch und gesellschaftlich zu verorten, hat zweikommasieben-Redaktor Marc Schwegler Terre Thaemlitz in einem ausführlichen Mailverkehr dazu befragt. Thaemlitz produziert nicht nur als DJ Sprinkles Housemusik, sondern hat gerade in ihren Arbeiten als mehrfach ausgezeichneter Künstler und Theoretikerin identitätspolitische Fragestellungen kritisch und präzise analysiert und befragt. Zuletzt etwa mit dem Multimedia-Album Deproduction (bzw. der gleichnamigen Performance im Rahmen der documenta 14), das die Zusammenhänge zwischen westlich-humanistischen Familienwerten und einem globalisierten, neoliberalen Kapitalismus untersucht.

Terre Thaemlitz         Ich verstehe zwar, was du mit der Eskalation von Identitätspolitik meinst. Ich glaube aber, wir sind uns einig, dass es sich hier um eine gleichgeschaltete Identitätspolitik in der Spätphase handelt. In gewisser Weise handelt es sich hier um etwas ganz Ähnliches wie die Dynamiken der Vereinnahmung, die rund um Boiler Room diskutiert wurden. Um etwas zurückzudenken Ich würde sagen, es war ungefähr Ende der 1980er Jahre, als die Rechte zum ersten Mal clever genug war, eine gewisse Sprache von linken Aktivisten und Akademikerinnen zu vereinnahmen, die sich rund um verschiedene Identitätspolitiken herausgebildet hatte. In den USA handelte es sich dabei auch um eine Antwort der Rechten auf den HIV/AIDS-Aktivismus – insbesondere etwa die Gruppe ACT-UP. Sie produzierte eine Menge an Grafikdesign, Medieninterventionsstrategien und Bildungsmaterial, das eine Sprache der Identität auf populärkultureller Ebene zu etablieren vermochte. Als Protest operierte diese Gruppe etwas anders als das universitäre Umfeld – obwohl sie sicher von einigen Akademikern beeinflusst wurde. Nun hat die Rechte – die auch die Berichterstattung in den Mainstream-Medien, den Fernsehsendern und den Zeitungen kontrollierte – angefangen, diese Strategien zu kopieren. Und während ein breites Publikum so begann, mit diesen Zeichen und Klängen vertraut zu werden, wurden sie als Werkzeuge des Widerstands nutzlos.

Ähnlich wie beim Mainstreaming von Musikgenres hatten sie für die meisten Leute, die den Zugang zu diesen Zeichen erst über Mainstreamquellen erhielten, als Mittel des Kampfes keinerlei Bedeutung mehr. Eine Sprache des Kampfes mag zwar erhalten geblieben sein – aber nur noch in einer parodistischen Form. Die Rechte hat diese Sprache allmählich absorbiert und dann wieder ausgewürgt, genau gleich wie die Werbung (das wird etwa in der Mobilfunkwerbung ganz besonders augenfällig, wo nun in beinahe allen Ländern pseudopolitische Slogans über Freiheit und Befreiung verwendet werden). Das wurde dann auf eine gewisse Weise von der jungen Linken re-absorbiert, die ab den 1990er Jahren diesen Begriffen in einer konservativen Universitätslandschaft wieder ausgesetzt wurde. Und mir fällt auf, dass ein wichtiger Teil dieses Wiedererlernens oder Wiederaussetzens auf der Linken leider damit einhergeht, dass man die wichtigen Lektionen des Versagens der Identitätspolitik nicht zu lernen vermag. Weil alles, was davon geblieben ist, sind leider nur noch positivistische Echos oder die Greatest Hits. Aber unser Versagen kann uns mehr lehren als unsere Erfolge, würde ich sagen. Gerade was das Zurückfallen in Essentialismen angeht. So sehe ich das. Aus meiner Sicht also führen die Rechte und die Linke beide gerade einen ähnlichen Tanz auf, beeinflusst von der Berichterstattung über, der Kritik an und der Vereinnahmung und dem Wiederverkauf von älteren und minoritären Strategien der Identitätspolitik (wobei viele davon bereits damals Probleme mit Essentialismen bekundeten).

Würde man dies mit einem Bild aus der Musikwelt erklären wollen, so könnte man sagen, es sei wie wenn heute eine Reggae Band sagen würde, sie sei hauptsächlich von UB40 beeinflusst. Das ist die Phase von Identitätspolitik, in der wir uns heute befinden.

Es geht also nicht nur darum, ob es sich hier einmal mehr um die gleiche Rhetorik handelt, sondern vielmehr – und vielleicht auch umso wichtiger – darum, wie und warum wir dazu noch immer Zugang haben. Und wie alles im Lauf der Zeit gefiltert und gereinigt (oder eben zensiert) wurde… Ich denke, dass die einzige hilfreiche Art und Weise, wie man solcherlei Fragen angehen kann, darin besteht, sie aus einer aktiv nicht-essentialistischen Perspektive zu stellen, die auf keinen Fall eine «authentische» Identitätspolitik wiederbeleben will oder eine «wahre» Interpretation einfordert. Es muss immer um soziale Kontexte gehen und darum, sich zu fragen, wo und wann eine solche Sprache noch immer einen Nutzen haben kann.

Und was haben wir eigentlich all die Jahre gemacht? Wie das Beispiel Mark Fisher ja zeigt, gibt es ja auch Kritik aus den Reihen der Linken – ich würde mich da auch dazuzählen. Was also sind die Methoden, die wir im Verlauf der letzten 30 Jahre entwickelt haben, nachdem wir Zeuge geworden waren, wie die Sprache der Identitätspolitik vereinnahmt wurde? Was haben wir gelernt und was machen wir anders – falls wir überhaupt etwas anders machen? Ich für meinen Teil versuche, bewusst auf minoritäre Strategien zu setzen, die sich einer Vereinnahmung widersetzen oder diese zumindest verzögern, indem sie sich vor populistischen Agenden hüten. Ich setze nicht auf Strategien, die versuchen die Macht zu ergreifen. Ich fokussiere eher auf Unternehmungen, die einen Entzug von Macht anstreben, die versuchen, die Gewalt zu reduzieren. Dies im Gegensatz zu einer essentialistischen Politik des Schutzes von spezifischen, rechtlich definierten und akzeptierten Typen menschlicher Körper.

MS        Hat die Linke eventuell nicht nur nichts dazu gelernt, sondern eher noch Dinge verlernt? Ein wichtiger Faktor für die sich derzeit verändernden politischen Allianzen, den Aufstieg der neuen Rechten und die Kritik an der Linken (auch von der Linken – siehe Mark Fisher) scheint mir zum Beispiel das Auslöschen der Kategorie der Klasse zu sein. Diversität in Bezug auf Rasse und Geschlecht ist zu einer institutionalisierten Kategorie geworden – gerade auch in multinationalen Konzernen. Und es gibt einen Strang im neoliberalen Diskurs, der sich auf eine pervertierte Form von «Political Correctness» beruft – wie etwa in dem von mir eingangs erwähnten Beispiel von dieser Website change-underground.com und ihrem Vokabular von Inklusion und Profit. Aber Fragen von Klasse (und die damit verbundenen Ästhetiken sowie vielleicht sogar auch deren Vereinnahmung) werden stetig ausgeblendet. Das ist natürlich Wasser auf die Mühlen der anti-elitären Rhetorik der neuen Rechten…

TT        Ich denke, dass Klassenfragen umso leichter ausgeblendet oder verschwiegen werden können, desto mehr man auf ein essentialistisches Verständnis des Körpers drängt. Das führt zu einer Auffassung, die auf universale Erfahrungen insistiert und letztlich zu Vermutungen über die Politiken gewisser Körper. Zum Beispiel zu der Idee, dass Leute aus der LGBT-Community automatisch anti-rechts sind – etwas, das immer und immer wieder widerlegt worden ist von Gruppen wie den Log Cabin Republicans oder auch Caitlyn Jenner. Wenn also Jenner sagt, sie kämpfe für die Rechte der Transgender und dass ihre Methode dafür die Unterstützung der Republikaner und Donald Trump sei, dann ermöglicht es nur die essentialistische Lesart ihres transsexuellen Körpers, über die unverfrorene Heuchelei und die Absurdität ihrer Politik hinwegzusehen. Sogar diejenigen die denken, dass Jenner eventuell nicht in ihrem besten Interesse handelt, machen letztlich nicht den Schritt, um zu begreifen, dass Jenners Interessen und Politik in ihrer eigenen Klasse und in ihrem eigenen Wohlstand zu suchen sind. In Wahrheit unterstützt und betreibt sie eine Politik, die zu ihrem ökonomischen Vorteil ist. Aber wie du sagst, scheint für die meisten Leute die Diskussion um Klassenfragen zugunsten einer essentialistischen Diskussion um Körper zu verschwinden. Viele Leute, die Jenner als eine Art Transgender-Heldin sehen, werden eher ihrer verrückten Befürwortung von Rechtsextremismus folgen, als ihre Klassenpolitik zu kritisieren. Sogar wenn sie ihre Sichtweise nicht teilen, werden sie sich vielleicht einreden, dass die Gefahren und Risiken der Rechten und von Trump nicht so schlimm seien, wie sie befürchtet hatten. Nach dem Motto «wenn Jenner als Trans-Frau denkt, das sei okay, dann kann es ja nicht so schlimm sein, oder?» Das alles hat einen Weichzeichner-Effekt auf die Öffentlichkeit.

Ich glaube auch, dass es eine Verbindung gibt zwischen der Zerstörung von sozialen Diensten und der Wiedereinführung von familiären Werten in dominante LGBT Agenden (gleichgeschlechtliche Ehe, Monogamie, das Aufziehen von Kindern, Militärdienst, etc.). In meinem neuen Projekt Deproduction, das an der Documenta 14 Premiere hatte, spreche ich über den Link zwischen diesem dominanten, rechtsbeeinflussten Moment traditioneller Familienwerte und der Faszination der queeren Kultur mit Tribalismus. Du weisst schon, Mythologien des respektierten Trans-Schamanen, der am Rand des Dorfes lebt (ohne irgendwelche Einsicht in die Isolation oder Gefangenschaft einer Existenz, die einem derart sozial aufgezwungen wird) oder die immer mehr verschwimmenden Grenzen von Körpermodifikationen (Tribal Tattoos, Piercings, trendige schönheitschirurgische Eingriffe, Hormoninjektionen – alles mehr und mehr austauschbare Trends), etc. Tribalismus ist – natürlich – viel eher noch mit Tradition und Familie verhaftet als jegliche demokratische Praxis. Ich glaube es ist mehr als nur ein Zufall, dass Universitäten, Kunstmuseen und andere kulturelle Institutionen – als unterstützte Orte kultureller Produktion in einer rechts-dominierten Welt – gerade für solcherlei LGBT-Projekte Unterstützung finden, wenn «Family Values» zunehmend verordnet werden. Trotz unseres Begehrens, Queer Studies und ähnliches als Alternativen zu oder Zurückweisungen von westlicher Heteronormativität zu begreifen, spiegeln diese in mancherlei Hinsicht doch auch unsere Internalisierung von ebendiesen neokonservativen Werten. Und all das geht einher mit einem unglaublichen Ausmass an absichtlicher Blindheit gegenüber von Imperialismus, Orientalismus und Armut – ein Fetischisieren und Romantisieren von Kämpfen um Geschlecht und Sex in der dritten Welt, etc.

Wenn das Leben in Japan mich eines gelehrt hat – diesem Land mit all seinen Transgender-Berühmtheiten – dann dass Trans-Visibilität nicht automatisch im Konflikt mit patriarchalen Interessen stehen muss. Es gibt viele Formen von Transgender, die eigentlich heteronormativen und homophoben patriarchalen Strukturen nur Vorschub leisten. Im Westen basieren Identitätspolitiken auf dem Glauben in die Formel von Sichtbarkeit=Macht und umgekehrt Schweigen=Tod. Allerdings ist dies in Bezug auf die Repräsentation und Aktivierung der sozial Minoritären eigentlich oft nicht der Fall. Was meine eigenen Erfahrungen angeht, so spielen «closets» weiterhin eine wichtige Rolle in meinem Leben und gleichzeitig bin ich nun seit mehreren Jahrzehnten als queer und trans geoutet. Ich denke, dass viel von dem Leid, das ich in meiner Jugend erfahren habe, hätte vermieden werden können, wenn man mir beigebracht hätte, wie man mit Scheinheiligkeit und Gleichzeitigkeit umgehen und arbeiten kann. Und wenn ich früh gelernt hätte, die Funktionen von Scham anders als nur traumatisch und destruktiv zu begreifen. Zurückblickend war der Stolz der Schwulenhasser, die mit mir umgesprungen sind wie es ihnen passte, für alle Beteiligten genauso traumatisch und destruktiv. Deshalb habe ich überhaupt kein Interesse an den Diskursen rund um PrideTM. Und damit zusammenhängend auch nicht an «Political Correctness», weil ich viel Energie darauf verwendet habe, meine Leben auf eine Art und Weise zu leben, die viele Leute wohl als «incorrect» bezeichnen würden. Wenn die Leute dich akzeptieren und dich als «correct» betrachten, dann weisst du, dass du etwas falsch gemacht hast [lacht].

Wenn du Leute aufregst, dann hast du die Grenzen der Macht identifiziert und überschritten. Diese Grenzen zu identifizieren und zu kartieren, sie zu überschreiten und sich dann wieder zurückzuziehen, sie neu zu ziehen… Das wird nie ein sozial oder politisch korrekter Prozess sein.

Deswegen glaube ich, ist es so wichtig, die essentialistischen Affinitäten, die wir zu unserem Körper und zum Körper der anderen haben, aktiv blosszulegen. Deswegen denke ich, dass die humanistische Praxis der Gesetzgebung rund um Körper (also welche Körper in einer liberalen Demokratie als «Mensch» anerkannt und geschützt werden – typischerweise diejenigen, die unter Vorstellungen fallen von «auf diese Art geboren» oder «konnte nicht anders», im Gegensatz zu Zuständen die auf willentliche Perversität, auf Nonkonformität oder aktive Entscheide zurückzuführen sind) durch rechte Agenden kontinuierlich vorangetrieben wurde und letztlich zu dem Zustand geführt hat, den du beschreibst und der dich beschäftigt. Es ist anscheinend sehr schwierig für die meisten Leute, ihre essentialistischen Vorannahmen über den Zusammenhang zwischen ihren sozialen Erfahrungen und den sozialen Kodifizierungen ihrer Körper zu hinterfragen – beinahe unmöglich, wie es scheint. Essentialismus verkauft sich gut.

Es ist um einiges leichter die Leute von rechtlichem Schutz für Menschen zu überzeugen, die «nicht anders konnten», als sie dazu zu bringen, sich auf das zu konzentrieren, was ich für eine um einiges sozialere und demokratischere Praxis halte. Nämlich sich darauf zu fokussieren, bewusste Entscheidungen zur Reduktion von Gewalt und zur Veränderung von sozialen Praktiken zu treffen. Ersteres fokussiert auf den Schutz von Körpern, letzteres zielt auf die eigentlichen Probleme, auf die Mechanismen, durch die Gewalt und Ausbeutung ausgeübt werden. Für mich ist die Gesamtheit liberal-humanistischer Gesetzgebung politisch irregeleitet – ein Taschenspielertrick. Das ist der Grund dafür, dass wir es geschafft haben, während Jahrhunderten vermeintlich demokratischer Regierungsführung gleichzeitig chronisch rassistische, sexistische, religiöse und ökonomische Ausbeutung zu betreiben. Unsere heutigen Probleme sind nicht entstanden, weil sich der Humanismus noch nicht genügend verbreitet hat, wie viele glauben. Die ganze Ausbeutung ist vielmehr ein Teil davon, wie der Humanismus sich ausbreitet.

MS        Mitten in der Hysterie rund um Trump, die neue Rechte und den Aufstieg der Populisten auch hier in Europa habe ich mich dabei ertappt, wie ich mich nach einer nüchternen (liberalen?) Realpolitik sehne (kurz gesagt Angela Merkel). Ganz Frankreich scheint sich danach gesehnt zu haben – und hat deswegen Macron gewählt (naja – ausser die mindestens dreissig Prozent, die Le Pen und den Front National wollten). Du hast etwas weiter oben geschrieben, dass du dich persönlich darauf beschränkst, einen Entzug von Macht zu bewirken – im Gegensatz zu einer essentialistischen Politik des Schutzes von rechtlich definierten und akzeptierten Typen menschlicher Körper. Kannst du ausführen, inwiefern das eine Form von Politik ist und was das praktisch bedeutet?

TT       Nun ja, teilweise habe ich diese Probleme in meinen eigenen, täglichen Handlungen berücksichtigt und Formen von Nicht-Kooperation und Selbstsabotage als Mittel für soziale Interaktion etabliert. Es handelt sich um einen Versuch, meinen Anteil an dieser Scheisswelt im Sinne einer Schadenbegrenzung zu minimieren, weil ich feststelle, dass beinahe jeder Aspekt eines normalen Lebensstils, zu dem man uns zwingen will, auf exportierter Sklaverei basiert und nicht nachhaltig ist. Zum Beispiel was Arbeit angeht, treffe ich Entscheidungen, die man im Kapitalismus wohl als der Intuition zuwiderlaufend beschreiben würde, um klein zu bleiben. Ich verwende nicht die regulären Distributionskanäle für Projekte, ich halte Projekte offline und vermeide Social Media so weit wie möglich, insistiere auf Bezahlung, leiste keine freiwillige Arbeit in der Kreativindustrie – was auch heisst, dass ich mich nicht an den typischen Formen von Promotion beteilige, keine Werbungen schalte usw. Es bedeutet, dass ich in verschiedenen Ökonomien als Freelancer (Musik, Kunst, Akademie) aktiv bin und mich weigere, mich auf eine einzige festzulegen. Im Prinzip also konsequent und systematisch alles verkehrt machen, so viel wie möglich. Das hat natürlich einen Einfluss auf die eigene Lebensqualität und führt zu Konflikten, was Erwartungen von denjenigen um mich herum angeht – von Partnern usw.

Aktive Nicht-Identifikation mit Geschlecht und sexueller Binarität kann auch zu Komplikationen in persönlichen Beziehungen führen – offensichtlich und erst recht für andere. Die Methoden der meisten Leute, um ihre sexuellen Objekte festzulegen, basieren darauf, eine Liebhaberin in Kategorien des Weiblichen oder Männlichen, Heterosexualität oder Homosexualität zu platzieren. Ich bin gleichzeitig «out» und «closeted» bei jeder Gelegenheit, was für mich allein schon verwirrend genug ist. Es bedeutet, sich an der Arbeit der Konstruktion von sozialen Beziehungen zu beteiligen, statt einfach ohne gross darüber nachzudenken, eine vorgegebene Rolle im konventionellen Beziehungsspiel zu spielen. Viele dieser Aktionen und Strategien habe ich an anderer Stelle ausführlich beschrieben. Obwohl ich diese Dinge niemals als Aktivismus beschreiben würde, so sehe ich sie doch insofern als politisch, als dass sie sich aktiv mit den Grenzen von sozialen Beziehungen in der öffentlichen und der privaten Sphäre auseinandersetzen. Und sie haben reale Auswirkungen, die ich akzeptiere, auch wenn sie teilweise negativ oder schädlich sind.

MS     Mit Realpolitik habe ich einerseits eine beinahe technokratische, sehr nüchterne Form von Politik gemeint, ein praktisches Engagement und eine Beteiligung an Prozessen der Rechtssetzung. Als Deleuze einmal nach den Menschrechten gefragt wurde (von Claire Parnet, in dem Fernsehfilm, den sie gemacht haben), sagte er, dass all die Gräueltaten, die an Menschen verübt würden, nie eine Sache von Gerechtigkeit oder abstrakten Gesetzen seien. Vielmehr handle es sich dabei um eine Frage der Jurisprudenz, der konkreten Rechtsprechung. Links zu sein bedeute, für eine Rechtsprechung zu kämpfen, Gesetze zu machen. Diese Passage wird von den Linken – verständlicherweise – um einiges weniger zitiert, als eine andere im selben Film, in der er über Links-Sein als eine Frage der Wahrnehmung spricht…

Andererseits habe ich über eine Art Politik der Hoffnungslosigkeit nachzudenken begonnen, die bestehende Ambivalenzen nicht abstreitet, die nicht einer wachsenden Ideologie omnipräsenter «Safe Spaces» zudient, sondern versucht für sehr schwierige Situationen Lösungen zu finden. Es handelt sich dabei letztlich um Regierungsangelegenheiten.

Das ist der Grund, warum ich Merkel und Macron erwähnt habe – als (liberale) Figuren unserer Zeit, die mit dem Auftritt von Trump an Beliebtheit gewonnen haben, weil sie schlussendlich doch das kleinere Übel darstellen.

Man kann jedoch deren Kampf und auch denjenigen der europäischen Union – während der Brexit immer noch bevorsteht und die Flüchtlinge immer noch ankommen – als erneuten Versuch sehen, der liberalen Politik eine moralische Ontologie als Grundlage zu geben. Diese muss wiederum in moralischer Neutralität begründet bleiben, was aber letztlich eben auch nicht möglich ist. Der ganze ideologische Kampf, der derzeit ausgetragen wird und den die liberalen Demokratien kaum noch zu zähmen vermögen, scheint auf einen neuerlichen Bürgerkrieg hinauszulaufen. Und damit auf exakt die Schrecken, die – wie z.B. Jean-Claude Michéa aufgezeigt hat – nach den religiösen Kriegen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert, die überhaupt erst zum Liberalismus geführt haben[2]. Aber wenn man für Realpolitik votiert, wann wird man damit nur zum reinen Komplizen des (Neo-)Liberalismus? Du würdest wahrscheinlich sagen, schon sehr bald – weswegen du nicht nur eine Strategie der Selbstsabotage vorschlägst, sondern diese auch aktiv verfolgst. Man könnte dies als eine Form des Desertierens ansehen, ein sehr bewusster aber gleichzeitig auch erzwungener Exodus. Wie ja etwa Paolo Virno[3] meint, kann auch das Desertieren ein politischer Akt sein…

TT       Ich desertiere von rein gar nichts, um es klar zu sagen. Ich wehre mich sogar gegen diese Begrifflichkeit, weil sie so eng zusammenhängt mit dem Vermächtnis von Transzendentalität und Hermeneutik. Sogar beim Desertieren gibt es keine Möglichkeit von Transzendenz.

Man desertiert nicht in die Friedfertigkeit. Man kann nie komplett entfliehen. Jeder Migrant ist immer auch ein Immigrant.

Trotz der Rhetorik von Wohlfahrt und Unterstützung – die kulturellen Minoritären werden immer durch Prozesse des Aussetzens regiert. Darum gibt es immer einen Zusammenhang zwischen ungenügender Regierung und dem Kampf ums Überleben, der Reduktion von Gewalt auf Bodennähe. Wenn man Gesetze macht, dann ist es wichtig, daran zu denken, dass nur weil man die Gesetze in den Büchern stehen hat, man damit noch keine Kultur verändert. Die Art von Gesetzen, von denen wir sprechen, entstehen als Antwort auf materielle Krisen – echtes Leiden und nicht nur Akademiker oder Philosophen, die sich mit Überlegungen aufplustern, wie die Leute eventuell leiden könnten.

Wenn ein Gesetz einmal gemacht ist (oft nur dank Konzessionen an die Rechte, was es eigentlich schon nutzlos macht), dann folgen sehr lange und teure Gerichtsprozesse rund um diese Gesetze, damit Präzedenzfälle etabliert werden können, um diejenigen, die die Gesetze verletzen, zu bestrafen, was dann wiederum dazu führen soll, dass die Gesetze künftig weniger häufig verletzt werden. Das ist genau das beschissene Modell, an das wir im Moment gebunden sind. Ohne jahrelange Verhandlungen, die nur einen Mikrokosmos der sich real vollziehenden Gewalt und des sozialen Missbrauchs abbilden, gibt es keine soziale Veränderung. Hier in Japan zum Beispiel wurden in den 1990er Jahren Gesetze gegen sexuelle Diskriminierung am Arbeitsplatz verabschiedet – allerdings wurden keinerlei Strafen festgesetzt für diejenigen, die diese Gesetze verletzen. Nach und nach wurden diese Strafen festgesetzt – aber dann nicht vollstreckt. Wir sind nun in dem Stadium, wo gewisse Anklagen gegen Arbeitgeber erhoben werden in der Hoffnung, dass die nun etablierten Strafen dann auch vollzogen werden. Allerdings sind die Strafen noch lange nicht hoch genug, damit sie Missbrauch wirklich verhindern. Und so geht die sexuelle Diskriminierung am Arbeitsplatz einfach weiter… Diese Prozesse brauchen Jahrzehnte. Manchmal Jahrhunderte. Ein ernüchterndes Beispiel ist die Geschichte der Sklaverei in den USA – also ein Land, dass sich seiner Wurzeln im Prinzip «all men are created equal» brüstet (man beachte nur den Gender-Imperativ…). Und doch, auch heute noch, wütet in den USA die systemische Diskriminierung.

Gesetze zu machen ist also nie das Ende. Es ist nicht einmal der Anfang. Es ist eine Form der analytischen Reaktion, die unter permanenter Revision und vor permanenten Herausforderungen steht. Natürlich, das ist etwas, wo Leute mit einer Tendenz zu links involviert sind. Das ist auch richtig so. Aber es wäre ein riesiger Fehler, würde man das Regieren als «echte» Politik begreifen. Gerade in Bezug auf die weiterlaufenden LGBT-Kämpfe um Entkriminalisierung, bei denen es sich um ein Projekt handelt, das noch lange nicht zu Ende ist. Ich sehe es als einen Fehler unserer Zeit an, dass die heutigen LGBT-Bewegungen mehr mit Legalisierung und formaler Anerkennung (gleichgeschlechtliche Ehe, das Erweitern strikt binärer Gendernormen, usw.) beschäftigt sind, als mit der vielversprechenderen Bewegung in Richtung der Nicht-Dokumentation. Das Auslöschen sämtlicher legaler Anerkennung von Ehen und Partnerschaften, die Beendigung von Anforderungen der Geschlechtsidentifizierung etc. Es gibt unzählige Beispiele, wo die Eliminierung bestehender Gesetze um einiges mehr Gutes gebracht hat und einen viel tiefgreifenderen kulturellen Impact hatte, als wenn diese mit anderen Gesetzen ersetzt worden wären. Aber vieles davon wird nie passieren – speziell in Bezug auf Geschlechterfragen und die Sexualität in der Patriarchie.

Traurigerweise gehen wir immer weiter in die andere Richtung, versuchen uns selbst in die Existenz zu definieren, angefüllt mit einer selbstverleugnenden Hoffnung und Versprechen. In Deproduction diskutiere ich den Bedarf an sozialen Diensten für diejenigen, die enteignet worden sind – im buchstäblichen Sinne von ihren Familien im Privaten und genereller in der öffentlichen Sphäre. Im Speziellen denke ich dabei an Frauen sowie weitere «Andere» (im Sinne von Gender oder Sexualität), die in patriarchalen Familiensystemen am meisten davon betroffen sind. Die Tendenz im Mainstream für diese Leute ist, sie reintegrieren zu wollen. Aber ich anerkenne auch den Bedarf von gewissen Leuten, alleine leben zu wollen – und diesen Zustand als einen der Sicherheit zu verstehen und weniger der konventionellen Tendenz nachzugeben, dass dies alleine eine traumatische Isolation bedeuten muss. (Eindeutig leiten auch etwas persönliches Gepäck und eigene Bedürfnisse meine Analyse). Wie ich vorhin sagte: Ich glaube der kulturelle Wandel des globalisierenden Westens weg von demokratischen sozialen Diensten hin zu traditionellen Familienwerten markiert eine ideologische Manifestation von echten politischen Massnahmen, die soziale Dienste ausradiert haben. Es gibt einige Feministinnen, die zu diesem Thema des Alleinseins arbeiten. Hier in Japan gab es dazu unlängst gar ein recht erfolgreiches, populärfeministisches Buch mit dem Titel Ohitorisama no Rogo (grob übersetzt: Alleine alt werden) von Chizuko Ueno. Sie skizziert darin, wie Frauen ein Leben jenseits von familiären Abhängigkeiten, Heirat, Kinderkriegen, etc. führen können.

MS       Wäre das denn nicht ein Argument für eine Neu-Konfiguration von Pflege, ein Verständnis dafür jenseits von simplen oder unterdrückerischen Trennungen des Öffentlichen und des Privaten? Eine Pflege im Sinne eines «Seinlassen», wie Heidegger (jetzt in hiesigen Gefilden eine Persona non Grata, aber trotzdem…) sagen würde? Eine Pflege, die Raum zur Verfügung stellt für diejenigen, die alleine sind/seien möchten/sein müssen? Wäre das nicht eine Aufgabe für ein Regieren der Hoffnungslosigkeit? Und könnte nicht das eine Aufgabe sein für eine neue Linke, die sich mehr mit dem Machen (oder auch dem Abschaffen, wie du sagst) von Gesetzen beschäftigt als mit der Überwachung von Diskursen?

TT        Praktisch bedeutet das tatsächlich, dass man auf die Brutalität von sozialer Isolation antwortet, in dem man Räume und Dienste organisiert, die einem das sichere Leben allein ermöglichen. Aber wie man solche Probleme angeht, ist abhängig von einer langen Beziehung zwischen Unabhängigkeit und sozialen Privilegien. Alleinsein ist ein Luxus. Die Hauptschwierigkeit besteht darin, Wege zu finden, um auf individuelle Bedürfnisse einzugehen, die nicht den Techniken des kleinbürgerlichen Individualismus und auch nicht denjenigen eines anpassungsbasierten Gemeinschafswesens entsprechen. Andere Methoden als diejenigen, die dafür entworfen wurden, eine Familie, einen Clan, einen Stamm zu besitzen – oder von einem solchen besessen zu werden. Es geht darum, einem zu ermöglichen, als Enteignete zu überleben. Um diese Vorschläge mit einem eher extremen Beispiel zu untermauern, denk an all die Queers im Iran, die zu Geschlechtsumwandlungen gezwungen werden, um einer Fatwah gegen Homosexualität zu entgehen (die Logik dahinter ist, dass Männer, die Sex mit Männern haben, oder Frauen, die Sex mit Frauen haben, nach der Geschlechtsumwandlung beim Geschlechtsverkehr nicht länger homo- sondern heterosexuell sind…). Daraus resultierend ist Iran zur zweitgrössten Ökonomie für Geschlechtsumwandlungen geworden, gleich hinter Thailand.

Viele Leute glauben, dass diese Ökonomien global vom Westen vorangetrieben werden und es sich dabei auch primär um westliche Fragen um Transsexualität handelt – aber das ist nicht der Fall. Natürlich ist der Iran ein Land, das immer noch sehr stark von den Familien als zentrale Institution für sozialen Support und soziale Dienste abhängt. Wenn jedoch Leute sich einer solchen Operation unterziehen, dann brauchen sie danach Hilfe und Unterstützung, finden sich jedoch oft in der Lage, dass sie nicht in ihre Dörfer und zu ihren Familien zurückkehren können. Viele würden Gewalt oder gar dem Tod ausgesetzt – von den eigenen Familien. Das ist also ein sehr reales Beispiel einer Situation, in der es eine Not für soziale Dienste gibt, um denen zu helfen, die enteignet worden sind. Das ist ein extremes Beispiel – aber ich erwähne es um klar zu machen, dass ich von sozialen Diensten spreche, die aufgrund von systemischer Gewalt nötig werden und nicht einfach irgendeine bürgerliche Altersvorsorge oder so etwas. Es gibt natürlich subtilere Formen von systemischer Gewalt, häuslicher Gewalt, familiärer Enteignung und öffentlicher Aussetzung, die sich permanent vollziehen – inklusive auch hier in Japan.

Ironischerweise besteht das iranische Modell für soziale Dienste darin, als Staat die durch die Fatwahs geforderten Geschlechtsumwandlungen zu subventionieren. Es ist interessant, wenn man feststellt, dass diese staatlichen Subventionen bereits in den 1970er Jahren begannen – als eines der ersten sozialen Programme nach der schiitisch-muslimischen Revolution, die den Shah gestürzt hat. Ich finde das unglaublich. Anscheinend befanden die Schiiten, dass diese ganzen Tunten eine derart krasse Krise darstellten, dass eine unverzügliche staatliche Intervention zu erfolgen habe, sogar damals. Was mich dann am meisten aufregt, ist wenn ich von uninformierten Leuten im Westen zu hören bekomme, dass diese staatliche Subventionspraxis für die Operationen im Iran ein Beispiel seien für eine fortschrittliche Pro-Transgender Regierung. Die bemühen das dann als Beispiel um zu zeigen, wie rückschrittlich der Westen beim Anbieten von trans-orientierten Sozialdiensten doch sei. Unglaublich!

Wenn es also um die Art und Weise von Diensten geht, von denen ich spreche, dann geht es nicht darum, diese an Orten einzuführen, an denen sie vorher nicht bestanden hatten. Es geht vielmehr darum, eine kulturelle Re-Definition dessen vorzunehmen, was es bedeutet, Leute zu unterstützen.

Offensichtlich geht es bei vielen heutigen Formen von Sozialdienst eher darum, einen Status Quo zu erhalten, als tatsächlich die Geächteten und Verfemten zu unterstützen. Aus einer Perspektive des Mainstreams betrachtet fragt sich ja auch, welche Kultur es für wünschenswert befinden würde, gegen ihre ureigenen Interessen zu handeln – richtig? Das ist die unmögliche Situation, der wir uns ausgesetzt sehen. Die sozialen Dienste, von denen ich spreche, lassen sich einer breiteren Masse eigentlich kaum verkaufen – gerade weil es sich um Dienstleistungen für die Tabuisierten und Verlassenen handelt. Aus meiner Erfahrung kommt die Pflege von kulturellen Minoritären in der Form von sehr kleinen, direkten und persönlichen Hilfeleistungen – die in den Augen von vielen Aktivisten vielleicht nicht mal als politische Praxis verstanden werden. Diese Formen haben keinerlei populistische Ambitionen (und es geht ihnen auch nicht darum – im Gegensatz zu den Strategien der alt-right – politische Machtansprüche zu stellen. Ist es nicht interessant, dass die meisten Leute nur das als politisches Handeln verstehen, was auf die Erreichung von Macht abzielt?). Die Abwesenheit einer Sprache oder eines Rahmens um öffentlich über solche Dinge nachzudenken, sorgt dafür, dass sie auf «persönliche Almosen» reduziert werden oder auf Privatsphären-Bullshit, was wiederum durchzogen ist mit Vorstellungen von bürgerlicher Patronage usw. Es ist alles in einer Grauzone.

Als jemand, der vor Jahren als DJ in einer transsexuellen Sexarbeiter-Bar gearbeitet hat, denke ich oft noch darüber nach, wie die «Houses» für die Trans-Community funktioniert haben; die «House Mothers» als diejenigen, die oft die einzigen waren, die queeren Teens, die von ihren Familien verlassen worden sind, geholfen haben. Die Stadt, der Staat und der Bund haben auf jeden Fall nicht geholfen. Ich habe mich immer gefragt, was geschehen würde, wenn diese Häuser die Familienkonstellationen und –metaphern hinter sich lassen würden. Wäre das überhaupt möglich? Zwischen den Metaphern der Familie («Houses») und Nationalismen («House Nation» etc.) ist eigentlich klar, dass ein Grossteil der Underground-Kultur sich daran abgearbeitet hat, das Trauma der Enteignung mit der Konstruktion von Familien und Nationalismen zu überwinden. Es ist gleichermassen herzzerbrechend, enttäuschend und völlig verständlich. Zum Teil eine recht tragische campy Politik. Das hat mir zumindest ein Bewusstsein dafür verschafft, wie Traumata unserer Politik und unseren Praktiken eine vorhersehbare Form verleihen – und unabwendbar letztlich den Konservativismus am Leben erhalten.

 

[1] Fisher, Mark (2013). «Exiting the Vampire Castle». The North Star. URL:  http://www.thenorthstar.info/?p=11299 . Zuletzt aufgerufen am 5. September 2017.

[2] Siehe: Michéa, Jean-Claude (2007/2014). Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz.

[3] Siehe: Virno, Paolo; hrsg. von Klaus Neundlinger und Gerhard Raunig (2010). Exodus. Wien: Turia + Kant.