13.11.2020 von Flora Yin-Wong

Aus der Schlucht—ἔσχατος

Die in London lebende Produzentin, Autorin und DJ Flora Yin-Wong erkundet in diesem fiktionalen Essay die Unsicherheit der aktuellen geopolitischen Lage in Resonanz mit den Schlussfolgerungen von Richard C. Duncans Olduvai-Theorie und setzt diese Konzepten aus der wissenschaftlichen Auffassung von Klang gegenüber. Sie schrieb das Essay Anfang 2020 und der Text erschien ursprünglich auf Englisch in zweikommasieben #21.

Im Jahre 1989 prognostizierte der Elektroingenieur Richard C. Duncan in seiner Olduvai-Theorie den Untergang der menschlichen Zivilisation. Innerhalb einer Dekade resultiere die ungleiche Entwicklung der Verfügbarkeit und des Bedarfs an Energieressourcen in einer malthusischen Katastrophe. Die Konstellation der Erschöpfung von fossilen Energiequellen und des Bevölkerungswachstums sowie der damit verbundenen erhöhten Produktion von Nahrungsmitteln würde in nur zehn Jahren zu einer globalen Energie- und Gesundheitskrise führen. Beim Eintritt dieses Szenarios wird die Energieproduktion pro Kopf bis 2030 auf den gleichen Wert wie 1930 fallen. Das Lebensalter der industriellen Gesellschaft würde 100 Jahre nicht übersteigen.

«Olduvai» ist der Name einer 48 Kilometer langen Schlucht in der Serengeti in der Arusha-Region Tansanias. Sie ist unter Paläo- und Anthropologen als eine der wissenschaftlich bedeutendsten Gegenden für die Studie der frühen Entwicklungsstadien der menschlichen Evolution bekannt. Die dort gefundenen Tierfossilien und von Menschenhand erschaffenes Werkzeug bezeugt die Entwicklung gemeinschaftlichen Handelns und sozialer Interaktionen der ersten uns ähnlichen Menschen.

Hall: die Ausdehnung eines Klangs, Resonanz; auch ein weitergehender Effekt, eine Rückwirkung

Heute, jetzt, brennt der tiefhängende Himmel rot und gelb in weiten Teilen der südlichen Hemisphäre. Seit Wochen, Monaten, beobachten wir die fremden Wolken und warten vergeblich darauf, dass sie sich wieder in Luft auflösen. Die Rauchschwaden sind hier entstanden und sind nach einer Umrundung des Planeten in ihrer unheimlichen Form zurückgekehrt, signalisieren die Brände, die häufiger als sonst Gewitterstürme auslösen.

Man schätzt, dass eineinhalb Milliarden Tiere gestorben sind in den ohne Ende vor sich hin lodernden Feuern. Starker Wind bestimmt das Wetter in unserer kaum noch erkennbaren Landschaft. Die Migrationsmuster der Tiere scheinen konfus und unvorhersehbar. Heftige Stürme haben die Gassen und Winkel spanischer Dörfer mit unbekanntem Meerschaum überflutet. Sandstürme zerrütten die ländlichen Gebiete in New South Wales in Australien. Brauner Regen fällt im südlichsten Teil der japanischen Insel Honschu. In Kenya gehören die roten Flussfluten, die das Flachland und die Kaffeefelder verwüsten, schon fast zum Alltag.

Apokalyptische Stromausfälle, elektrische Aktivität in der Atmosphäre und unberechenbare Schwankung in der Stromversorgung beeinträchtigen auch die höchstentwickelten Länder Europas, Nordamerikas und Ostasiens. Grossstädte werden beim Ausfall des Stromnetzes zu den gefährlichsten Orten. Die städtischen Gebiete werden bald entvölkert werden. So schnell diese Metropolen gewachsen sind, sich in Hochhäuser aufgetürmt haben, so schnell werden die Gebäude verlassen werden, sobald die Strom- und Grundversorgung unterbrochen ist. Das Müllproblem wird durch die Klimakrise exponentiell verschärft. Die Gefahrenzonen sind bereits identifiziert und verzeichnet.

Unerklärbare akustische Phänomene sind aufgetreten, wie der sogenannte Hum, ein ununterbrochenes, tiefes Brummen oder Summen, das zwar nicht von allen aber von zu vielen Menschen gehört wird, um seine Existenz offiziell abzustreiten. Ursprünglich wurden Bürgerinnen in Taos, New Mexico, auf das übernatürliche Geräusch aufmerksam. Jetzt bringt es bereits eine Gemeinschaft in einer akustischen Erfahrung zusammen und wird immer häufiger gehört, an verschiedenen Stellen im Vereinigten Königreich und im Staat Indiana. Weltweit wird es immer lauter.

Oszillation: wiederholte Hebung und Senkung, meistens in einem zeitlichen Rahmen, einer Einheit eines wichtigen Wertes oder Schwankung zwischen zwei oder mehreren Stadien

Die Theorie des Malthusianismus besagt, dass das Bevölkerungswachstum von anderen «Kontrollinstanzen» gebremst und im Zaum gehalten wird, sobald es das Wachstum der vorhandenen lebensnotwendigen Ressourcen übersteigt; von Krankheiten, Hungersnöten und Kriegen. In den vergangenen Monaten hat eine Pandemie, wie sie die Menschheit noch nie gesehen hat, den Planten heimgesucht und unzählige Tote eingefordert. Das neue Coronoavirus und seine beschleunigte Verbreitung betrifft die gesamte Bevölkerung des Planeten. Das Ausmass ist bewusst mit der Veröffentlichung von Zahlen cachiert, die Berechenbarkeiten übersteigen, während Expertengruppen in Biologie und Medizin nach einem Impfstoff forschen. Diese moderne Pest stellt den Zusammenbruch der unterliegenden Systeme bloss: Der Gesundheitsapparat ist überlastet, Rezessionen setzen ein, ganze Städte und Länder stehen unter Ausgansverbot und rassistische Meinungen über die Unterschiede zwischen westlichen und östlichen Kulturen werden lauter. Das Virus wurde in mehr als hundert Ländern festgestellt. Die Zahl der Infizierten steigt täglich. Das Eindämmen der Ansteckung scheint unmöglich.

Neue «health» und «tech» Marken wie Airnium und Breatheasy arbeiten mit den Grossunternehmen Amazon und Nike, zusammen um Beatmungsgeräte zu entwickeln, bei deren Konzeption Stilelemente genauso berücksichtigt werden wie gesundheitliche Fragen. Das Angebot beinhaltet nun Luftreiniger für Zuhause, benutzerangepasste Fortbewegungsmittel, selbstreinigende Handschuhe und Schutzblasen. Diese Entwicklung zeigt, wie gespalten das Verständnis der Situation ist: Die jüngeren Generationen, deren Lebenserwartung das zivilisatorische Ablaufdatum der «Olduvai-Schlucht» übersteigt, bereitet sich auf die feindlichen Bedingungen einer vom Klimawandel zerstörten Welt vor. Deren Eltern und Grosseltern verneinen weiterhin genau diesen Krisenzustand und lehnen jegliche Verantwortung dafür ab.

Die Distanz zwischen Jung und Alt wird weiter ausgedehnt von der wissenschaftlichen Entdeckung eines Spektrums an Tonfrequenzen, die nur von Menschen unter dreissig gehört werden können. Das neue Kommunikationsmedium mit Altersbeschränkungen wird sowohl in politischen Manifesten als auch für Werbungen gebraucht, um das jeweilige Zielpublikum auf eine bestimmte Art zu erreichen. Die Nachkriegsgeneration und Gen X geben am wenigsten Geld für Luxusgüter aus und werden aus diesem Grund von vielen Marken als irrelevantes Marktsegment angesehen.

Dass Klang schon seit langem zu militärischen Zwecken eingesetzt wird, in Kriegsgebieten und im Training von Meeressäugern wie Delphinen, ist bekannt. Neu hingegen ist eine positive Nutzung von Schallwellen. Gewisse Frequenzen beschleunigen das Pflanzenwachstum; die sogenannte «heilige Frequenz» von 111 Hz, die man in den Räumen neolithischer Monumenten und Tempeln gemessen hat und angeblich die Aktivität im rechten präfrontalen Kortex des menschlichen Hirns stimuliert. Die Verwendung der Frequenz hat nun zu positiven Resultaten in der Behandlung von Tierarten geführt, deren Flucht aus Waldbrandgebieten posttraumatischen Stress ausgelöst hat.

Reflektion: eine Änderung in der Richtung einer Welle beim Aufprallen auf ein Medium, welche die Welle zurück zu ihrem Ausgangspunkt schickt

Es besteht Grund zur Annahme, dass die Entwicklung von Hominiden zum frühzeitlichen Menschen in der für Paläontologie und Anthropologie bedeutenden Gegend der Olduvai-Schlucht stattfand. Abgesehen von im evolutionären Sinn kurzzeitigen Entwicklungen, wie die verlängerte Lebenserwartung insbesondere in der westlichen Welt, die Immunität gegenüber alter Krankheiten, die verbesserte Nutzung des Potenzials des Hirns, der Ausbau der Aufmerksamkeitsspanne und der Erinnerungsfähigkeit, Veränderungen in der Kampf-oder-Flucht-Reaktion, hat sich die menschliche Spezies seit ihrem Ausmarsch aus der Schlucht in biologischer Hinsicht kaum verändert. Hingegen leiden immer mehr junge Menschen an Depressionen und anderen Beschwerden in unserem von Medien und dem hyperbeschleunigten Informationsaustausch dominierten Zeitalter. Unaufhörlich brechen Märkte zusammen, während sich das Problem der Überbevölkerung verschärft und jeden Tag begeben sich mehr Menschen auf die Flucht vor der katastrophalen Situationen ihrer Heimat. Unsere Gegenwart ist das Zeitalter der Beklemmung, der Ausdruck einer eingebrochenen Zivilisation.

In seinem Essay über die Olduvai-Theorie definiert Duncan die Periode Industriegesellschaft als die Zeitspanne zwischen den Punkten, an denen die Energieproduktion pro Kopf 37 % des höchsten Wertes erreicht, zuerst während des Wachstums und danach während der Regression. Laut dieser Rechnung hat die Industriegesellschaft eine Lebenserwartung von höchstens 100 Jahren. Nach dieser Periode würde unsere moderne Zivilisation in eine neue, untergeordnete Ära schreiten (oder doch eher straucheln).

Refraktion: die Richtungsänderung einer Welle beim Übergang von einem Medium in ein anderes oder die graduelle Veränderung in einem Medium.

 

 

Das Essay wurde von N. Cyril Fischer übersetzt.

Die originale, englische Version des Textes ist in der 21.Ausgabe von zweikommasieben erschienen. Das Magazin kann hier bestellt werden.

Bildquellen: Beitragsbild (Dongyi Liu), Hall, Oszillation, ReflektionRefraktion