07.04.2016 von Conor McTernan

Volte-Face – Keine Angst vor Kurswechseln

Der ursprünglich aus dem Französischen stammende Begriff volte-face taucht hier und da immer wieder in der Englischen Literatur auf und liesse sich im Deutschen am ehesten mit Kurswechsel oder Umorientierung umschreiben. Er beschreibt ein Umdrehen oder eine Neuausrichtung der eigenen Grundsätze, Prinzipien oder Haltung, oft resultierend in einer radikal geänderten Weltanschauung. Casper Clark hat für den grösseren Teil der letzten Dekade eine zentrale Rolle in Londons weltläufiger Szene für elektronische Musik eingenommen. Vom Kuratieren der Line-ups für intime, gerade so an der dreistelligen Teilnehmerzahl kratzende Keller-Partys, die als BleeD bekannt wurden, bis zum Innehaben einer zentralen Rolle im Organisatoren-Team des Field Day Festivals. In dieser Laufbahn hat er zweifelsfrei viele Neuausrichtungen erlebt, auf persönlicher Ebene genauso wie im grösseren Kontext der Musiklandschaft. Während einer durchtanzten Nacht im September hat zweikommasiebens Conor McTernan mit ihm darüber und über vieles mehr gesprochen – unter anderem auch über seine kürzlich getroffene Entscheidung zu Gunsten einer Produzentenkarriere. Hinein in Technos Sog als Volte-Face!

«Weil es die Frage der Authentizität in den Mittelpunkt rückt, mögen es die meisten Menschen nicht, über ihre Vergangenheit zu sprechen. Aber glaubst du wirklich, dass deine Lieb- lings-DJs sachkundig geboren wurden? Wir haben alle irgendwo angefangen und wir haben alle irgendwann einmal Platten gespielt, die wir heute bereuen würden…», erzählt Casper an einem Freitagabend im Zug von Londons Paddington Station nach Oxford, während die Pendler um uns herum in ihr Privatleben zurückfahren, am Handy mit ihren Partnern sprechen oder sich mit Spielen auf ihren iPhones ablenken. Die kühle Septemberluft, die in den Wagen strömt, kündigt den Herbst an. Wir sind auf dem Weg Richtung Field Maneuvers, einem kleinen 500-Personen Festival in einer unangekündigten Location eine Stunde entfernt von der britischen Hauptstadt, wo Volte-Face später in der Nacht auflegen wird.

Spürbar enthusiastisch und unruhig wegen des bevorstehenden Abends erklärt Casper seine Sichtweise, dass man mehr lerne, je länger man sich mit Musik auseinandersetze. Wie mit allen anderen Dingen im Leben. «Man findet ausserdem stetig mehr darüber heraus, was einen tatsächlich motiviert und inspiriert. Als ich anfing aufzulegen, habe ich mit DJs wie Erol Alkan, Justice und Simian Mobile Disco gespielt und viel darüber gelernt, wie man ein Warm-up spielt … Ich habe einige wirklich schlechte Platten gespielt, aber habe auch viele wirklich gute Platten kennen gelernt.» Er hält kurz inne und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Farben des Sonnenuntergangs, während der Zug aus der Peripherie der Stadt ins Ländliche fährt. «Der Name Volte-Face ist humorvoll gemeint, aber ich erwarte von niemandem, das instinktiv zu realisieren. Ich mag Dinge, die auf den ersten Blick prätentiös wirken, aber in Wirklichkeit Blödeleien sind, deren Witz sich niemandem erschliesst, ausser mir und, wenn ich Glück habe, manchmal meinen engsten Freunden.»

In Caspers Karriere gab es bisher zahlreiche glückliche Fügungen. Eine davon war die Investition von vier Monaten harter Arbeit in die Konzeption eines neuen 600-Personen Klubs in Hackney, in dem er den Posten des Creative Directors und alleinigen Bookers ausgefüllt hätte. «Ich hätte alles gegeben und den Job sieben Tage die Woche gelebt.» Letzten Endes hat der ausser Kontrolle geratene Immobilienmarkt Hackneys diese Vision zunichte gemacht. «Als klar war, dass der Klub nicht eröffnen wird, war bei mir kein Frust, sondern die Erkenntnis, dass ich noch andere Ambitionen habe, die ich gerne verwirklichen würde.»

Der Wendepunkt seiner Karriere kam am Morgen nach einem Event, das nicht nach Plan lief und Casper einiges an Geld kostete. «Ich war zwar nicht pleite und hätte meine Wunden lecken und weiter machen können, aber ich bin am nächsten Tag aufgewacht und der Schock war gross genug, dass ich gedanklich sofort Abstand von den Partys genommen habe. Ich dachte, jetzt wäre ein guter Moment endlich mal Zeit im Studio zu verbringen.» Aus den grössten Niederlagen lernt man oft am meisten: «Wenn du über die Strasse läufst, stolperst und ein wenig ins Taumeln kommst, lernst du nichts. Wenn du aber direkt auf dein Gesicht fällst und plötzlich blind bist, verändert sich dein Leben. Ich habe BleeD nie gemacht, um damit das grosse Geld zu verdienen, aber im Endeffekt war dieser Abend der Auslöser dafür, dass ich mir eine neue Form des künstlerischen Outputs gesucht habe.»

Casper hat mit BleeD als Party pausiert und seinen Fokus von da an aufs Produzieren gelegt. Innerhalb eines Jahres erschienen auf BleeD, jetzt auch ein Plattenlabel, drei Releases. Zudem veröffentlichte Caspar einen Track auf Svrecas Semantica-Label – auch für ihn ein wichtiger Referenzpunkt. Die unschätzbar wertvollen musikalischen Kontakte und Freundschaften, die er über die Jahre geknüpft hat, haben dabei geholfen, diesen Fokuswechsel reibungslos zu gestalten. Nun, wie sieht der typische Arbeitstag für Volte-Face aus, der gemeinsam mit seiner Freundin und einer Katze im nordöstlichen Londoner Stadtteil Clapton wohnt? «Montags komme ich meistens spät in Gang, aber ich setze mich dann direkt an den Computer. Ich habe zuhause ein Büro, das auch als Studio fungiert, also habe ich es vom Bett nicht weit bis zum Arbeitsplatz. Die Labelarbeit braucht momentan nicht besonders viel Zeit, um ehrlich zu sein. Es ist nur ein kleines Projekt – wir pressen von jeder Platte 300 Stück.» Er nutzt zwei oder drei Tage der Woche fürs Produzieren, durchschnittlich sieben oder acht Stunden pro Session, was ihm das Gefühl und die Routine eines regulären Jobs gibt, die ihn zufriedenstellt. Feedback und Hilfe seiner Bekannten ist für ihn beim Produzieren essentiell – so vertraut er der Meinung eines befreundeten Soundengineers, um sicher zu gehen, dass am Ende alles klingt, wie es klingen soll.

«Ich will nicht zwölfmal im Jahr in London spielen, sondern nur fünf- bis sechsmal…»

Um auch seine anderen Interessen zu stillen, hat Casper in den letzten Jahren ausserdem für experimentellere Events wie das Donau Festival oder das Unsound in Krakau gearbeitet. «Für das Donau Festival hab ich das Booking gemacht und beim Unsound habe ich geholfen, einen Teil des Klubprogramms zusammenzustellen. Die beiden Festivals gehören zur Speerspitze der experimentellen elektronischen Musikevents und es ist eine Ehre, aktiv helfen zu können, diese zu formen und zu definieren.» Entstanden sind diese Aufgaben aus seiner Arbeit fürs Field Day Festival seit dessen Beginn im Jahre 2007. Seine Rolle dort hat sich im Laufe der Zeit stetig entwickelt. «Ich habe das Booking eines kleinen Zelts gemacht, das sukzessive grösser wurde und schliesslich den Namen BleeD getragen hat. Ich habe ausserdem versucht, dem Festival in seiner Grundausrichtung meinen Stempel aufzudrücken. Wenn ich das Gefühl hatte, es gibt einen bestimmten Künstler oder Sound, der Aufmerksamkeit verdient, habe ich den Leuten, die für das Hauptprogramm verantwortlich waren, eine Wunschliste geschickt.»

Während dieser Bürolaufbahn hat Casper auch Daniel Avery kennengelernt, ein enger Freund mit dem er mittlerweile oft zusammen auflegt. Das zweite Release auf BleeD ist ein gemeinsames Projekt der beiden unter dem Namen Rote, was im Englischen eine Art mechanische Routine beschreibt. «Wenn man sagt, dass die Platte ‹by rote› entstanden ist, beschreibt das einen automatischen Prozess. Ich glaube, das ist ein entscheidender Moment beim Schreiben von repetitiver Klubmusik: den Zeitpunkt der Automatisierung zu finden. Instinktiv zu handeln und nicht zu geplant. Das ist doch auch der Grund, warum wir in Klubs feiern gehen, oder nicht?»

Kalkulierter wirkt seine DJ-Karriere, die nach wie vor den grössten Stellenwert bei ihm einnimmt. Dadurch, dass er ebenfalls viel Zeit auf Seite der Promoter verbracht hat, versteht er, dass es wichtig ist, sich von Zeit zu Zeit rar zu machen. «Ich will nicht zwölfmal im Jahr in London spielen, sondern nur fünf- bis sechsmal… Hunee ist ein gutes Beispiel – soweit ich weiss, ist er, als er nur sporadisch gebucht wurde, nach Amerika gezogen und plötzlich wollte jeder in Europa ihn auf seiner Party haben. Man kann den Eindruck gewinnen, dass diese Verknappung ihm sehr dabei geholfen hat. So lange man Platten rausbringt, glaube ich, dass es besser ist, weniger und dafür selektierter Gigs zu spielen.»

Nach einigen Runden japanischen Lagers kommen wir langsam in Stimmung; die Zugfahrt liegt hinter uns und jetzt fahren wir in einem Taxi über kleine Landstrassen und rufen dem Fahrer Richtungsangaben durch ein Plastikfenster zu. Casper scheint ein wenig unruhig, weil er eigentlich nüchtern sein sollte für sein Set, aber die Aufregung überwiegt. Wir greifen das Gespräch der Zugfahrt wieder auf und reden über das Artwork seiner Veröffentlichungen, welches immer irgendeine Form von verzerrten Gesichtern darstellt. «Die Idee dahinter ist vergleichbar mit der meines Künstlernamens – auf den ersten Blick wirkt es hintergründig, bis man die Bedeutung entschlüsselt. Zum Beispiel war auf der ersten Hülle ein verfälschtes Bild von Rupert Murdochs Kopf, aber niemand hat das bemerkt. Das Bild passt zum «Scharlatan»-Thema der Platte, aber ich erwarte nicht unbedingt, dass irgendjemand diese Verbindung herstellt.»

Das dritte BleeD Release ist seine zweite Solo EP und heisst All Grown Up. «Ich mag die Idee, dass ich nach zwei Platten vom Scharlatan zum Erwachsenen gereift bin. Die Bezeichnung ist ausserdem bekannt aus der Daily Mail, in der sie oft für junge Berühmtheiten verwendet wird, die volljährig werden. Es ist buchstäblich eine Formulierung der Presse, die irgendjemanden als sexuell verfügbar beschreibt.»

Ihn fasziniert das manipulative Potenzial der Presse, ein weiterer Grund warum er Murdoch für das erste Plattencover ausgewählt hat. «Sobald man anfängt zu verstehen, wie Zeitungen funktionieren, werden sie deutlich interessanter – die Antworten sind zwar da, aber oft verschlüsselt hinter einer bestimmten Art und Weise zu schreiben. Die Hülle meiner dritten Platte hat eine prägende Erinnerung meiner Kindheit als Grundlage: man schiesst den Fussball in die Sträucher und rennt hinterher, um ihn zu holen und findet im Busch weggeworfene Pornohefte – es war wie ein Blick in das Leben, für das man noch nicht bereit ist, sozusagen das Ende der Ahnungslosigkeit.»

Während wir uns dem Festival nähern, kommt zur Sprache, dass sein musikalischer Output oft ein bestimmtes Grossraum-Gefühl transportiert, nicht selten assoziiert mit dem Sound vom Berghain. Wenn die eigene musikalische Sozialisierung geprägt ist von avantgardistischen Künstlern wie Demdike Stare, Raime oder Holly Herndon stellt sich die Frage, ob er nicht auch seine experimentellere Seite zum Ausdruck bringen will? «Ich denke man kann sagen, dass es einen Unterschied gibt, obwohl ich nach wie vor von den Erfahrungen und der Neigung von experimentelleren Sounds zehre. Ich investiere viel Zeit in die Texturen meiner Produktionen. Bisher ist es immer stärker um die Textur als um die Melodie gegangen, aber das ist etwas, an dem ich arbeite,» erklärt er. «Ich glaube, dass die Power meiner bisherigen Platten auch daherkommt, dass ich im Studio immer noch ziemlich am Anfang meiner Entwicklung bin.»

Im Laufe der Nacht lassen wir uns treiben, sehen uns verschiedene Acts auf verschiedenen Bühnen an, honorieren die Produktion und das Setting des Festivals und sprechen mit einigen enthusiastischen Gästen. Zur Sprache kommt auch die Rolle, die ein DJ spielt und wie er die Leute zum tanzen bringt. Bei diesem Thema verweist Casper auf DJ Nobu als sein Vorbild: «Nobu hat einen sehr meditativen Ansatz in Bezug auf das Auflegen. Er kanalisiert Energien auf eine nahezu schamanische Art und Weise. Das ist etwas, das ich auch beherrschen möchte – das Selbstbewusstsein und die Fähigkeiten zu haben, die Energie der Tanzenden auf eine bewusstseinserweiternde oder psychedelische Bahn zu steuern. Als Raver weiss ich aus eigenen Erfahrungen, dass ich auf der Tanzfläche nicht ausrasten muss, um eine gute Zeit zu haben. Ich kann mich auch mit geschlossenen Augen auf den Moment konzentrieren. Ich hoffe, dass ich im Laufe der Zeit besser darin werde, dieses Gefühl auch über meine Sets zu transportieren.»

«Das ist so eine Party, zu der vielleicht nur 100 Leute kommen, aber dafür weiss man, dass alle aus dem gleichen Grund da sind.»

Vom Diskutieren des Festivalprogramms kommen wir bald darauf zu sprechen, wie die BleeD Events in Zukunft aussehen werden: «Ich bin mir darüber im Klaren, dass nicht alle Leute, die im Laufe der Jahre ihren Weg in die BleeD Datenbank gefunden haben, meinen momentanen musikalischen Weg mitgehen würden, aber die Party war schon immer die Reflexion meines persönlichen Musikgeschmacks zu der jeweiligen Zeit. Ich verbringe immer noch viel Zeit damit, abseitigere Musik zu hören und ich werde nach wie vor jeden Künstler buchen, den ich spannend finde. Alessandro Cortini ist ein gutes Beispiel – er war letzte Woche unser Gast im Cafe OTO. Wenn ich jemanden wirklich buchen möchte, ist es egal, ob er oder sie ein angesag- ter neuer Technoproduzent ist oder ein älterer Herr, der Banjo spielt.»

Casper wird vermutlich nie aufhören, Events zu organisieren. Before My Eyes ist BleeDs Schwesterevent, bei dem Raime und Demdike Stare Residents sind. «Bei diesen Nächten kann eine Platte von Tropic Of Cancer die grössten Reaktionen hervorrufen, oder ein seltenes Steve-Albini-Release oder eine Reggae-Platte – ich liebe diesen Eklektizismus. Meine Freundschaft zu den Jungs ist aus diesen Partys entstanden und wir versuchen alle paar Monate eine zu machen. Bei der letzten haben The Haxan Cloak und Powell gespielt. Es war total informell, wir haben sie erst einen Tag vorher gebucht. Das ist so eine Party, zu der vielleicht nur 100 Leute kommen, aber dafür weiss man, dass alle aus dem gleichen Grund da sind. Warum sollte man versuchen zu wachsen, wenn man weiss, dass man schon etwas sehr besonderes etabliert hat?»

Caspers Set auf dem Festival war zugeschnitten auf die Tanzfläche, hatte aber auch immer wieder unerwartete und im besten Sinne seltsame Momente. Die Verbindung zwischen seiner Art aufzulegen und seinem reflektierten Naturell und den Aussagen des Tages lag auf der Hand. Danach tanzten wir zu Daniel Averys Set, bevor alle zusammen ins Auto sprangen und auf dem Rückweg nach London bei abgeschaltetem Radio die Ereignisse des Abends en détail Revue passieren liessen. Das alles ging ziemlich schnell, der ganze Ausflug mit Casper hat weniger als 24 Stunden gedauert. Man könnte sagen, das alles passierte «by rote»…