22.02.2016 von Guy Schwegler

Nicht aus Afrika, nicht aus der Zukunft: DJ TLR

Ende der Neunziger entsteht in Den Haag im Schlick von Punk und Techno eine Szene, die ihresgleichen sucht: The Hague Sound. Jeroen van der Star aka DJ TLR gründet mit diesem Hintergrund 2001 das Label Crème Organization. Dessen Message ist ganz einfach: «Your misery is our mission.»

Während Crème sich irgendwo zwischen Italo Disco, Acid House und Detroit Electro verorten lässt und damit dem Who is who der internationalen Outsider-Szene ein Zuhause bietet, entsteht 2013 mit dem R-Zone-Label ein etwas anderes Konzept. Es wird keine Abgrenzung mehr gesucht, keine Namen mehr genannt, nur der Rave-Moment gezählt. Jungle und Chicago? Kein Problem. Ekstase und Paranoia? Wieso nicht. Fuck you and delivery? Well, yes hello!

TLR spielte just vor der Sommerpause 2014 am Südpol Luzern im Rahmen der Veranstaltungsreihe Nacht. Am Tag darauf unterhielten sich zweikommasieben-Autor und -DJ sowie Crème-Organization- und R-Zone-Fanboy Guy Schwegler mit dem durch und durch geselligen Jeroen.

Guy Schwegler Ich habe vor kurzer Zeit das Buch More Brilliant Than The Sun[1] gelesen und wollte das Konzept des Afrofuturismus als Startpunkt dieses Gesprächs nehmen.

Jeroen van der Star Mhh, was soll ich dazu sagen. Ich stamme nicht aus Afrika… auch nicht aus der Zukunft.

GS Ich genauso wenig. Ich glaube aber dennoch einige Parallelen zwischen diesem Konzept und deiner Label-Arbeit zu sehen. Zum Beispiel die Idee, dass Zeit nicht linear ist. Oder der Gedanke, dass eine Zukunft kommt, die eigentlich schon vergangen ist, um die aktuelle Zeit zu retten.

JVDS Aber das ist doch Physik. Ich denke nicht, dass Afrofuturismus wirklich so weit geht. Das Konzept ist deep und gleichzeitig nicht deep. Sehr viele Ideen stammen aus Comic-Büchern: Superhelden, Unterwasser-Menschen, dies und das. Und ich glaube diese Comic-Buch-Sachen klingen deeper als sie sind. Und die ganze Sache mit der Zeit… Es hat wohl mit Entropie zu tun?

GS Ja.

JVDS Die Dinge bewegen sich in Richtung eines chaotischen Zustands, und es braucht viel mehr Energie sie in den normalen Zustand zu bringen. Wenn ich eine Tasse Kaffee ausschütte, krieg ich den Kaffee nicht mehr so einfach zurück in die Tasse. Alles geht in Richtung Chaos. Es scheint, dass wir uns linear bewegen, doch das sieht für uns nur so aus. In der Theorie ist alles reversibel. Die Linearität kommt daher weil wir im Prozess selbst feststecken. Wie wir die Dinge momentan wahrnehmen ist aber nur unser Augenschein.

GS Genau diese Aspekte sehe ich bei R-Zone reflektiert.

JVDS Ahh, okay, okay. R-Zone basiert im Herzen auf einem Astrophysik-Konzept. [Lacht]

GS Die Sachen, welche auf dem Label erscheinen, haben ja keinen Zeitfokus…

JVDS Ja, das haben sie wirklich nicht. Die Releases sollten zeitlos sein… Und es ist wirklich schön, wenn Musik zeitlos ist. Aber das zu erreichen ist schwierig. Denn im jeweiligen Moment weiss man nicht, was zeitlos sein wird. Man findet das erst viel später heraus: «Okay, das klingt auch nach 20 oder sogar 40 Jahren noch gut.» Aber eigentlich kann man nicht etwas Zeitloses schaffen, höchstens es probieren.

GS Versuchst du also mit R-Zone Musik zu veröffentlichen, die zeitlos ist oder keinen Zeitfokus besitzt?

JVDS Ich will nicht, dass die Sachen auf eine bestimmte Periode oder auf Personen fokussiert sind. Momentan geht es in vielen Bereichen nur noch um Namen. Namen, Namen, Namen. Jede Party muss internationale Gäste auf dem Line-up haben. DJs, dies und das, berühmte Leute, Platten mit Remixes von Blablabla, Künstler, was auch immer. Viele Labels scheinen nur noch eine Kollektion dieser Namen zu sein. Das ist nicht grundsätzlich schlecht, aber ich wollte davon wegkommen.
Früher war das Ganze noch ein wenig offener. Dance Music. Es ging nicht um Gesichter, es ging ums Gefühl. «The big houses of feelings», darum ging es doch wirklich, oder darum hätte es gehen sollen.
Die frühen Raves und das ganze Zeug konnten wirklich massiv sein. An völlig zufälligen Orten, Hausbesetzungen, drei Tage lang und jeweils mit unglaublich vielen Leuten. Aber niemand wusste, wer zum Teufel da gerade Platten auflegte. Niemand wusste, was für Musik gerade gespielt wurde. Man wusste nicht, wer die Künstler und die DJs waren. Das war einfach nicht von Interesse. Es ging um die Atmosphäre und nicht ums Ego. Heute dreht sich alles sehr stark um Personen, um Egos. Die Leute tanzen zum Beispiel Richtung DJ. Ich versteh das nicht und finde es bizarr.

GS Hattest du das Gefühl, dies mit Crème Organization nicht erreichen zu können?

JVDS Ich weiss nicht… Das klingt nun sehr hochgestochen. Ich wollte lediglich ein wenig abspacen. Das ist es, was ich meine. Partys an denen man sich in einer rituellen Weise gehen lassen kann. So Stammes-mässig, tribal – aber nicht im musikalischen Sinne. Bei Partys geht es doch immer darum loszulassen und in einen höheren Zustand überzugehen. Unabhängig davon, wie dieser Zustand aussieht. Das Ganze muss ja nicht real sein. Im Moment scheint aber alles nur Konsum zu sein.
Ich will ein paar nackte Menschen im Wald – so richtig heidnisch. Ich meine das nicht im Sinne einer Goa-Trance-Party. Es ist schwierig zu erklären und es soll nicht so hochgestochen wirken.
Mit Crème wollte ich einfach jede Menge Musik rausbringen, die ich wirklich mochte und auch jetzt noch mag. Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Da waren die Freunde, die coole Musik machten. Ich selber begann öfter und seriöser aufzulegen, konnte dadurch viel reisen und verdiente ein wenig Geld. Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas davon zurückgeben muss. Ich war ja auch schon ein wenig älter und war mir bewusst, dass das Ganze nicht ewig anhalten würde. Ich dachte mir, ich muss etwas machen. Jetzt. Ein Label gründen.
Ich hatte damals die Möglichkeit dazu: Die Verbindungen, die Musik und die Freunde. Wir hatten damals etwas Gutes am laufen… Wir hatten Glück. Die Musik aus meinem Umfeld [2] galt als originell. Gegenüber den alten Neunziger-Sachen war es aber auch wirklich eine Veränderung.
Die späten Neunziger waren zwar futuristisch, jedoch auf eine nervige und möchte-gern Art und Weise. Diesen Vibe jetzt noch zu beschreiben ist schwierig, aber das Ende des 20. Jahrhunderts fühlte sich etwas seltsam an – in kultureller Hinsicht. Das Millennium stand vor der Tür und niemand wusste, wie das enden würde. Schlussendlich ist alles gut gegangen, aber damals fühlte sich das Ganze ein wenig paranoid an. Jeder hatte Angst vor dem millenium bug [3]. In allen Filmen ging es nur um katastrophale Dinge: Der ganze UFO-Kram und Akte-X. Dazu kam, dass die Leute glaubten, das Internet würde den Planeten verschlingen. Virtual-reality-blablabla. Es war richtig prätentiös. Die Musik war auch nicht wirklich interessant. Wir hingegen befanden uns in einem Wandel und hatten einfach eine andere Attitüde als ein grosser Teil der Szene für elektronische Musik.

GS Habt ihr also diesen Vibe aufgenommen und mit Crème auf eine ironische Weise reflektiert?

JVDS Ja, Crème war auf eine Art ironisch, aber nicht wirklich. Denn das war auch eines dieser grossen Themen damals, Ironie. So in der Art von: «Ohh, das ist so cheesy, aber ich mache es trotzdem.» Alle verhielten sich sarkastisch. Bullshit! Man muss doch für etwas einstehen. Aber gleichzeitig sollte die ganze Attitüde von Crème auch nicht zu ernst sein. Das Artwork war zum Beispiel ziemlich frivol. Denn diese Ernsthaftigkeit war ebenfalls so ein Ding in den Neunzigern…

GS Aber das Artwork von Crème hat doch auch eine gewisse Strenge?

JVDS Ja in gewisser Weise sicher. Gleichzeitig hat das Artwork aber doch diese lockere Seite. Am Anfang waren da ja eine Ente, Pinguine, Snowscooters, die Jungs im Schnee. Es war nie ein gerendertes Ei auf einem Schachbrett, gemacht mit einem 486er Computer und ganz nach dem Motto «ahh, Zukunft». Das Artwork von Crème war anders.
Natürlich hat das mit dem Typen zu tun, der für das Artwork verantwortlich ist. Auch dahingehend war ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ich traf ihn [4] an einer Party; er war sehr talentiert und blieb das auch.

GS Die Gründung von Crème hatte also viel damit zu tun, dass du die richtigen Leute um dich hattest?

JVDS Ja, es hat damals alles Sinn gemacht und lief wie von alleine. Wir mussten uns nicht mehr viel überlegen. Ich musste mir keine Gedanken machen, was ich wollte, welche Richtung ich einschlagen sollte oder was das Geschäftsmodell von uns sein soll. Ganz einfach: Hier ist die Musik, hier sind die Leute und das ist die Szene. Dazu kam ein Forum [5], das die Sache verband. Alles passierte im Moment, ganz ungeplant. À la «fuck it», wir machen das nun einfach.

GS Und das R-Zone-Label zu lancieren, war wiederum «einfach das Richtige tun»?

JVDS Keine Ahnung, aber es war etwas, das ich machen wollte. Ab einem gewissen Punkt habe ich gemerkt, dass auf Crème nicht alles funktioniert. Das Label hat eben eine bestimmte Bandbreite… und gewisse Dinge funktionieren da nicht. Ich wollte also eine andere Plattform, auf der ich ein wenig experimentieren kann – ein anderes Konzept, etwas Neues. Dann habe ich gewisse Musikrichtungen für mich wiederentdeckt, die mich damals irgendwann zu langweilen begannen. Auch haben gewisse Produzenten wieder damit angefangen, andere Sachen zu machen. Somit hat es Sinn gemacht, etwas Neues zu starten – zumindest für mich.

[1] Eshun, Kodwo (1998): More Brilliant Than The Sun: Adventures In Sonic Fiction. London: Quartet Books.
[2] Zum frühen Umfeld von Jeron und dem Crème-Label gehören unter anderem Legowelt, Orgue Electronique und Bangkok Impact.
[3] Das Jahr-2000-Problem, oder eben der millenium bug, war ein Computerproblem, das die Behandlung von Jahres-
zahlen als zweistellige Angabe in den Systemen betraf.
[4] Das Artwork von Crème macht Mehdi Rouchiche aka Godspill.
[5] Das Forum, das Jeroen erwähnt, heisst Global Darkness. Die Inhalte reichten von Gesprächen über Drum Machines und Synthesizern bis hin zur Katalogisierung von Platten.