12.06.2016 von Tobias Brücker

Gegen:stand – Die Sonnenbrille

Die Sonnenbrille ist eine Brille mit dunkel getönten Gläsern. Bei Tageslicht schützt sie die Augen vor der starken und gefährlichen Helligkeit des Sonnenlichts. Viele DJs und unzählige Raver tragen sie, wann immer die Bässe steigen. Doch wovor sollten die Augen in dunklen Klubs geschützt werden?
Vor dem Glitzern der Discokugel? Vor dem zappeligen Laserlicht? Oder vor dem Tratsch, wer welche Drogen genommen habe? Antworten auf diese Fragen helfen hier nicht weiter. Sie blenden das Wesentliche aus, weil die Sonnenbrille im Klub ihre Funktionen nur als Tarnung mit sich herumträgt.

Der Blick in die Geschichte kann Licht ins Dunkel bringen: Die Sonnenbrille ist ein Kind der industriellen Massenproduktion. Sie liebt die Maschinen, das Künstliche und die Technik. Früher gehörte sie zur Grundausstattung von Piloten und Rennfahrern. Berufe also, in denen es um die Kontrolle und Zähmung von Maschinen geht. Auch die Klubkultur ist ein Kind der Maschinen. Was früher als Lärm der Fabriken galt, wird im Klub als rhythmisierte Kunst verehrt und bejubelt. Es kann kein Zufall sein, dass die Sonnenbrille hier wie dort zum Kult-Gegenstand wurde.
Nun ist auch der DJ nicht allzu weit entfernt von einem Piloten: Mischpult, Synthesizer, Plattenspieler und komplizierte Audiosoftware bilden ein imponierendes Cockpit. Der Pitch kann gleich dem Gaspedal gehoben und gesenkt werden. Beim einen steigen die km/h, und beim anderen die bpm – «My finger is on the button». Im 4/4-Takt hört man die zuverlässige Regelmässigkeit der Maschine und nicht selten blasen uns die Bässe wie Wind um die Ohren… Der DJ ist ein Klubpilot! Er rast mit uns durch die Weiten der elektronischen Musik: mal im Gleitflug und mal mit überschall. Als Zuhörer werden wir zu Passagieren erster Klasse, weil wir im Klub immer die beste «Sicht» auf die Musik haben.
Der Siegeszug der Sonnenbrille als Modeartikel wurde durch jenen der amerikanischen Fliegerstaffeln im Zweiten Weltkrieg eingeleitet. Als modernes Industrieprodukt war die Sonnenbrille in der Nachkriegszeit weder historisch noch traditionell vorbelastet. Das machte sie zum geeigneten Statussymbol für Selbstbewusstsein, Freiheit und Neuanfang. Ebenso wenig vorbelastet war der Techno, als er am Ende des Kalten Krieges von Detroit nach Europa herüberwehte und zwischen eisernen Vorhängen eine unbeschwerte neue Welt eröffnete. Einige Monate vor dem Mauerfall kündete die erste Berliner Love Parade mit 150 Teilnehmern von einem Neuanfang, der sich jenseits der Querelen zwischen Ost und West befand. Als Taufpatin mit von der Partie: Die Sonnenbrille! Wenn wir im Klub also eine Sonnenbrille tragen, so erstens, weil sie mit der elektronischen Musik verwandt ist. Zweitens, weil wir Kriege nicht mögen. Und drittens als Co-Piloten des DJs. Welcome aboard!